Genovefa

[270] Genovefa heisst die Heldin eines weit verbreiteten Volksbuches. Die Sage ist zuerst 1472 in lateinischer Sprache durch einen aus Andernach gebürtigen Karmelitermönch, Matthias Emich, niedergeschrieben worden und erscheint hier als eine Marienlegende, an die Waldkapelle Frauenkirchen geknüpft, welche einige Meilen von Koblenz entfernt liegt. Ihr Inhalt ist folgender: Zur Zeit des Trier'schen Erzbischofs Hildolf lebte ein frommer Pfalzgraf Siegfried, dessen schöne Gemahlin Genovefa, eine Tochter des Herzogs von Brabant, der Jungfrau Maria mit Gebet und Almosen eifrig diente. Nun begab es sich, dass der Pfalzgraf an einem Heerzug gegen die Heiden teilnehmen sollte, und, noch kinderlos, verordnete er, dass seine Gemahlin während seiner Abwesenheit auf seiner im Maifelde belegenen Burg Simmern wohnen sollte; zu seinem Verweser aber bestimmte er nach dem Rate seiner Vasallen den tapferen Heermeister Golo. In der Nacht vor dem Aufbruche geschah es durch göttliche Schickung, dass die Gräfin vom Pfalzgrafen empfing. Mit Empfehlung seiner Gemahlin in den Schutz der Jungfrau Maria eilte der Graf traurig von dannen. Bald darnach entbrannte der treulose Golo in sündlicher Liebe zu der schönen Frau: doch alle Anträge fruchteten nichts, sowenig als die falsche Nachricht, dass der Herr im Meere umgekommen sei. Nun entzog ihr Golo alle Diener und Dienerinnen und liess ihr für die Stunde der Geburt nur ein altes, böses Weib zum Beistande. Als aber die Nachricht kam, der Pfalzgraf sei auf der Heimkehr begriffen und in Strassburg eingetroffen, ging Golo ihm entgegen und verleumdete den Koch als Buhlen seiner Herrin, wusste ihn auch zu verleiten, dass er dem Vorschlage zustimmte, Mutter und Kind im (Laacher) See zu ertränken. Die mit der Ausführung des Befehles vertrauten Diener schonten jedoch Frau und Kind, liessen jene im Walde zurück und brachten die ausgeschnittene Zunge eines mitgelaufenen Hundes als Wahrzeichen des Gehorsams mit. Maria aber gelobte der verlassenen Mutter ihre Hilfe und sandte dem verschmachtenden Kinde eine Hirschkuh, die es säugte. Sechs Jahre und drei Monate darauf gedachte der Pfalzgraf seinen Vasallen ein grosses fest zu geben; weil aber viele Gäste früher eintrafen, zog er am Tage vor Epiphanias mit ihnen hinaus zur Jagd. Da stiess er auf die Hirschkuh, fand bei ihrer Verfolgung Mutter und Kind und erkannte sie als die seinigen an. Erzbischof Hildolf weihte auf Genovefas Bitte und Verlangen am Dreikönigstage die schützende Stätte der heiligen Dreifaltigkeit und der Jungfrau Maria. Bei dem grossen Feste aber, das der Graf jetzt gab, wurde Golo durch vier Ochsen zerrissen, die noch nicht im Pfluge gegangen waren. Schon am 2. April[270] starb Genovefa und wurde in der neugestifteten Marienkapelle begraben.

Die bestimmte Gestalt einer lokalisierten Marienlegende scheint die Geschichte Genovefas gegen die Mitte des 15. Jahrhunderts erhalten zu haben, wahrscheinlich unter dem Einflusse der Karmeliter, welche der Marienverehrung besonders ergeben waren. Vielleicht haftete bereits eine der Fortbildung fähige Sage an der Kapelle Frauenkirchen. Der Trierer Bischof Hildolf ist eine apokryphische Person, und von einem rheinischen Pfalzgrafen, der ums Jahr 1100 in dieser Gegend gelebt haben soll, weiss man sehr wenig Gewisses.

Erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts, nachdem die Legende bis dahin wenig bekannt gewesen war, erweiterte der französische Jesuit René de Ceresiers, geb. 1606, die Legende zu einer erbaulichen Novelle und entkleidete sie des lokalen und individuellen Charakters einer Marienlegende. Seitdem wurde dieser Stoff vielfach episch und dramatisch zuerst in französischer Sprache behandelt; in den Niederlanden schliff sich Cerisiers Novelle zu einem Volksbuche ab, aus welchem wahrscheinlich das deutsche Volksbuch hervorgegangen ist.

In der Nachbarschaft der Kapelle Frauenkirchen wurde Genovefa Jahrhunderte lang als Heilige verehrt, obwohl sie nie heilig gesprochen worden ist. Alljährlich am Ostermontage, dem Sterbetag der Pfalzgräfin zogen die Bürger der benachbarten Stadt Mayen in voller Kriegsrüstung nach Frauenkirchen, führten ein Scheingefecht zwischen Franken und Sarazenen auf und kehrten nach verrichtetem Gebete in Prozession zurück. Erst im Jahre 1785 hörte die Prozession auf.

Zacher unterscheidet an der Genovefa-Legende zwei Bestandteile, einen ursprünglichen, sagenhaften und einen Jüngern, novellistischen. Das novellistische Element war seit dem 13. Jahrhundert in einer grossen Anzahl von Geschichten zur Darstellung gelangt, welche den Sieg der ehelichen Liebe und Treue verherrlichten, die aus Drangsalen und Verfolgungen geprüft und geläutert hervorgeht. Der Stoff dieser bis ins 16. Jahrhundert reichenden Novellen war aber meist von früher Zeit her überliefert und geht hier und in andern Erzählungen auf die Göttersage selbst zurück. Es ist nämlich diese Legende ein Bruchstück jener weitverbreiteten Sage, welche bei zahlreichen deutschen Volksstämmen wiederkehrend, an die Namen der Stammheroen, Schwanritter, Siegfried, Welf u.a. sich anknüpft und über diese auf Wuotan hinaufreicht, aus dessen Verbindung mit einer Walkyre jene Stammesheroen entsprossen gedacht wurden. Genovefa ist niemand anders als die deutsche Göttermutter Freya. Dahin weist ihre Auffindung, festliche Heimführung und die Einweihung des Heiligtums am letzten Tage der Zwölften, am Epiphaniasfest, vielleicht auch die Hirschkuh und die Nachbarschaft der Niederlande, wo die Schwanensage am meisten heimisch war. Nach Zacher in Ersch. u. Gruber. Vgl. Seuffert, die Legende von der Pfalzgräfin G. Würzburg 1877. Aus gleichen Quellen wie die Genovefa-Legende scheint die Legende von der Ida von Toggenburg geflossen zu sein, vgl. darüber Götzinger in der »Illustrierten Schweiz«, Bern 1874, S. 47–57.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 270-271.
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