Gesta, Geste, Chanson de Geste

[289] Gesta, Geste, Chanson de Geste. Schon die lateinische Sprache entwickelte aus dem konkreten Ausdrucke res gestae eine in der altchristlichen Litteratur häufig gebrauchte neutrale Pluralform gesta, das nicht mehr bloss Thaten, Handlungen, Verhandlungen, sondern auch Aufzeichnungen bedeutet, parallel dem Worte acta, dem nun vorwiegend die geistliche Sphäre in Acta apostolorum, Martyrum, Sanctorum, Conciliorum u. dgl. überlassen wird, während gesta überwiegend die weltliche und im engern Sinne die heroische Sphäre behauptet. Zuletzt wandelt es sich mittellateinisch in ein weibliches singulares Substantiv, als welches es in die romanischen Sprachen übertritt: ital., provenz., span. gesta, altfranz. geste, bald singularisch, bald pluralisch gebraucht, mit den Bedeutungen 1) der Thaten eines vornehmen Geschlechtes, 2) einer Chronik, 3) der Geschlechtsfolge des Stammes. In der altfranzösischen Poesie ist Chanson de geste der stehende Ausdruck für die in einreimigen Tiraden abgefassten, sowohl zum Absingen als zum Hersagen oder Vorlesen bestimmten Epen, zunächst aus den einheimischen Sagenkreisen, dann für Heldengedichte dieser Form überhaupt, im Gegensatze zu den ritterlichhöfischen Romans und Contes, deren Stoff anderen Quellen angehört und deren Form, strophenlose Reimpaare, nur für das Hersagen oder Vorlesen bestimmt ist. Die Chansons de geste stammen aus den, im einzelnen nicht mehr erkennbaren Helden- und Geschlechtssagen der germanischen Eroberer und ihrer Nachkommen. Die ältesten vorhandenen Denkmäler zeigen einen zehnsilbigen, durch eine Cäsur unterbrochenen Vers, mit männlichem Reime oder Assonanz und strengem Abschlusse des Sinnes am Ende des Verses; erst aus späterer Zeit, 12. Jahrh., stammt der zwölfsilbige Vers oder Alexandriner, siehe diesen Artikel. Beide Verse, den zehn- wie den zwölfsilbigen verknüpft ein und dieselbe Assonanz oder ein und derselbe Reim eine unbestimmte Reihe von Zeilen hindurch ohne Unterbrechung, bis der Dichter zu einer andern Assonanz oder einem andern Reim übergeht; man nennt die Absätze tirades monorimes. In ihrem Entwicklungsgange lassen sich drei Hauptstufen der Chansons de geste unterscheiden. Die erste Periode charakterisiert sich durch ein trotziges Vasallentum, die Roheit und Selbstsucht des fränkischen Heldentums, den Hader der Stämme[289] und der Familien. Mit Philipp August und den Kreuzzügen wandeln sich die Chansons de geste zu christlichritterlichen Epen um, ein opferwilliges, ideales Rittertum kämpft für den Glauben. Karl und seine Paladine, darunter besonders Roland, sind fromme Glaubenshelden, alle Feinde Heiden, d.h. Muhamedaner. Seit der Mitte des 13. Jahrh. beginnt die dritte Periode. Aus den Artusromanen dringen Riesen, Zwerge, Feen, Minne und Galanterie, eine subjektive und willkürliche Behandlung in diese bis dahin streng episch gehaltenen Heldengedichte. Was von diesen Dichtungen am Ende des Mittelalters nicht gänzlich in Vergessenheit gerät, löst sich in prosaische Form auf und geht in Volksbücher über. Nach Zacher in Ersch und Gruber, Art. Gesta.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 289-290.
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