Kindleinwiegen

[494] Kindleinwiegen. Bildliche Darstellungen der Geburt Christi waren früh in den Kirchen Frankreichs üblich. Zu Rouen wurde nach dem Tedeum am heiligen Weihnachtstage die Anbetung der Hirten folgendermassen gefeiert: Hinter dem Altar ist eine Krippe erbaut, darauf das Bildnis der heil. Jungfrau. Vor dem Chor auf einer Erhöhung steht ein Knabe, welcher den Engel darstellt, und verkündet die Geburt[494] Christi. Durch die grosse Thür des Chores treten die Hirten ein und gehen auf die Krippe zu, unter dem Gesange Pax in terris; sie begrüssen die Jungfrau und beten das Kind an. Vor dem Altar wird eine Messe gelesen; nachdem sie der Priester geendet, wendet er sich zu den Hirten und fragt: Quem vidistis pastores? Die Hirten antworten: Natum vidimus.

Ähnliche kirchliche Weihnachtsgebrauche sind seit dem 14. Jahrhundert in Deutschland nachgewiesen. In der Kirche war eine Wiege aufgestellt, an der Maria sass. Sie fordert Joseph auf, das Kind zu wiegen. Dieser erklärt sich dazu bereit, worauf der Chor ein frommes Weihnachtslied anstimmt. Der Text lautet in einer kürzeren Aufzeichnung:


Joseph, lieber neve min,

hilf mir wiegen das kindelin,

dass got müesse din loner sin

in himelrich,

der meide kint Maria.

Gerne, liebe muome min,

ich hilfe dir wiegen din kindelin.

dass got müesse min loner sin

in himelrich,

der meide kint Maria.

Nu freu dich, christliche schar!

der himelische kunig klar

nam die menschheit offenbar,

den uns gebar

die reine meit Maria.


Ähnliche Lieder entstanden viele im 15. Jahrhundert, die in den Mund des Volkes übergingen und sich lange erhielten. In evangelischen Gegenden starb die Sitte allmählich, doch sehr langsam aus, in der katholischen Kirche erhielt sie sich und trieb stets neue Wiegenlieder, die dann in die Gesangbücher übergingen. Hoffmann v. F., Deutsches Kirchenlied, §. 11. Mannhardt, Weihnachtsblüten. Berlin 1864. S. 164 ff.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 494-495.
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