Neigung

[391] Neigung (lat. inclinatio) heißt die zur Gewohnheit gewordene Begierde; wächst sie zu besonderer Höhe an, so heißt sie Hang. Die Neigung wurzelt tiefer in unserem Ich als die Begierde, weil sie sich durch wiederholte Vorstellung in ihm festsetzt und so eine stetige Disposition des Triebes erzeugt. Sie läßt sich daher auch schwer bekämpfen; denn sie wächst durch häufige Befriedigung. Vom Instinkt unterscheidet sich die Neigung durch die Erkenntnis des Objekte. Im weiteren Sinne kann man sie als habituelle Stimmung der Seele bezeichnen, im engeren als Stimmung des Begehrungsvermögens, im engsten Sinne als Regsamkeit eines sinnlichen Triebes ansehen. – Während Kant (1724-1804) die Neigung als die dem Subjekt zur Regel (Gewohnheit) dienende sinnliche Begierde definiert (Anthropol. § 77), betonte Hegel (1770-1831) sie sei gar keine Begierde, sondern eine konstante, auf Erhaltung des Objekts gehende Willenslichtung. Vgl. Sympathie, Begierde, Hang, Trieb. – Man kann materielle und intellektuelle Neigungen unterscheiden. Jene sind entweder physische, d.h. unmittelbare (zu Nahrung, Geschlechtsgenuß, Schlaf) oder reflektierte, d.h. Mittel zu etwas anderem (zur Ehre, zur Gewalt, zum Gelde); die intellektuellen Neigungen sind ein habituelles Begehren aus reinem Vernunftinteresse.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 391.
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