Sehnsucht

[559] Sehnsucht heißt das starke Verlangen nach etwas für wertvoll Erachteten, in Verbindung mit dem Gefühl der Trauer, es nicht erreichen zu können. Die Sehnsucht kann sich auf Vergangenes und Verlorenes oder auf Zukünftiges und Erhofftes richten. Am natürlichsten richtet sie sich auf die Zukunft. Es ist »jedem eingeboren, daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, wenn über uns, im blauen Raum verloren, ihr schmetternd Lied die Lerche singt« (Goethe, Faust, Spaziergang). Besonders in der Jugend wird der Mensch von Sehnsucht nach etwas Unbekanntem gequält, nach der zukünftigen-Geliebten, nach einem schöneren Lande, einem besseren Dasein, einem edleren Jenseits. Durch Goethes Lyrik z.B. geht bis zur Reise nach Italien dieser Zug der Sehnsucht hindurch (vgl. z.B. Trost in Tränen, Mignon, Wandrers Nachtlied). Aber auch im späteren Leben erfaßt den Menschen oft mitten in der Prosa der Alltäglichkeit ein tiefer Schmerz, ein geheimes Sehnen, das sich rückwärts nach den Idealen seiner Jugend wendet. So begleitet die Sehnsucht das ganze menschliche Leben. »Wir haben hier keine bleibende Stätte, die zukünftige suchen wir.« »We spend half our life in longing to be nearer death!« So förderlich für den Menschen die Sehnsucht nach etwas Höherem ist, so schädlich wird sie, wenn sie zur schwächlichen Sentimentalität, zur phantastischen Mystik oder zum lähmenden Weltschmerz ausartet. Eine besondere Form der Sehnsucht ist das Heimweh (s. d.).

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 559.
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