Sensus communis

[570] Sensus communis (lat. sensus communis, gr. koinê aisthêsis) oder Gemeinsinn (common sense) nannte die ältere Psychologie ein Mittleres zwischen der Sinnestätigkeit der einzelnen Sinne und dem Verstand (Aristoteles, de anima III, 2 p. 425 an 15 tôn koinôn echomen aisthêsin koinên), eine Art inneren Sinnes. Galenus (131-200) zerlegt den inneren Sinn in mehrere Sinne, und Augustinus (353-461) läßt ihn nicht bloß das Empfinden der Sinne, sondern auch ihr Nichtempfinden wahrnehmen (de lib. arb. II, 4). Bei Thomas v. Aquino (1225-1274) wird ihm alle Vorstellungsweise zugeschrieben, die nicht den einzelnen Sinnen und dem Verstande zufällt, also Phantasie, Gedächtnis, Apperzeption u.a. Zur Zeit der Reformation unterschied man neben den fünf äußeren fünf innere Sinne (Gemeinsinn, Beurteilungsvermögen, Phantasie, Denken, Gedächtnis). Vgl. Melanchthon, liber de anima, Vitemb. 1540, Fol. 174. Descartes (1596-1650) nimmt dazu noch zwei innere Sinne an (Hunger und Durst), also im ganzen sieben (Princ. phil. IV, 90). Auch die Sensualisten Hobbes, Locke und Condillac behielten den Begriff des inneren Sinnes bei. Erst Schulze (1761-1833, Anthropol. 2. Aufl. Gött. 1819, S. 34) hat die Ansicht der Existenz eines Gemeinsinnes bekämpft. Die ganze Fiktion eines oder mehrerer besondere inneren Sinne ist nur ein Versuch, eine Frage sensualistisch zu erledigen, die ihre Erledigung nicht auf dem Gebiete des Sinnes allein finden kann. Anders hat die schottische Philosophie im 18. Jhrhdt. den Begriff »common sense«, Gemeinsinn gefaßt. Für sie ist der Gemeinsinn[570] so viel als der gesunde Menschenverstand. Thomas Reid (1710-1796) stützt alle Philosophie auf diesen gesunden Menschenverstand, der ein Sinn für das Wahre und die Grundlage für alle abgeleiteten Wahrheiten sein soll. Ihm schlössen sich James Beattie und James Oswald an. – Neugeformt ist der Begriff des Gemeinsinns durch Wundt (geb. 1832). Wundt bezeichnet in zeitlicher Bedeutung als »allgemeinen Sinn« denjenigen Sinn, der allen anderen voraufgeht und deshalb allen beseelten Wesen zukommt, in räumlicher Bedeutung den Sinn, der die ausgebreitetste den Reizen zugängliche Sinnesfläche hat, die ganze äußere Haut mit den an sie angrenzenden Schleimhautteilen der Körperhöhlen und eine große Zahl innerer Organe, wie die Gelenke, Muskeln, Sehnen, Knochen usw., in denen sich sensible Nerven ausbreiten und die entweder fortwährend oder zeitweisen Reizen zugänglich sind. Der allgemeine Sinn, so bestimmt, schließt vier Empfindungssysteme: Druck-, Kälte-, Wärme- und Schmerzempfindungen in sich ein (Wundt, Grundr. d. Psychol. § 6, S. 56 ff.). Wundt setzt also den allgemeinen Sinn an Stelle des Tast- oder Gefühlssinnes.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 570-571.
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