2.


[95] Mancher Andere an meiner Stelle wurde vielleicht vor Aufregung kein Auge zugemacht haben. Ich aber kam in der fröhlichsten Stimmung aus der Vorstellung der »Künstler« nach Hause. Ein Theil meines Reisezweckes war bereits erreicht. Ich las noch Abends die Rolle einigemale aufmerksam durch, legte mich mit den angenehmsten Vorstellungen von dem weiteren Verlaufe meines Schicksals zu Bette und schlief recht wacker aus.

Montags nach dem Frühstück setzte ich mich hin und begann mein Studium. Es war der 14. September und ich konnte mich einer ernsten Betrachtung nicht entschlagen, als mir einfiel, heute sei das Schul- und Stiftungsfest in Grimma! Drei Jahre vorher hatte ich daselbst mein Abiturientenfest begangen und nun saß ich im Gasthofe zu Nürnberg im Begriffe, mit einem salto mortale in die Theaterwelt zu voltigiren! Aber gleichviel, nur Entscheidung! Ich rührte mich den ganzen Tag nicht vom Platze.

Nach Tische war ich bereits der Worte mächtig und am Abend vor Schlafengehen ging es wie Wasser. Am nächsten Morgen repetirte ich die Rolle noch sehr scharf und um neun Uhr stand ich auf der Probe.[95]

Hier fingirte ich die größte Vertrautheit mit allen Theatergewohnheiten und gab mir alle Mühe, in keiner Beziehung eine Fremdheit zu verrathen.

Nach der Probe nahm ich nun die Rolle erst recht vor. Keine Stellung, keine Nuance, auf welche mich der Regisseur aufmerksam gemacht hatte, verwischte sich in meinem Gedächtnisse und bis zum Mittagessen am Vorstellungstage war ich mit der Rolle so vertraut, als hätte ich Wochen darauf verwendet.

So prangte denn glücklich folgender Theaterzettel an allen öffentlichen Orten:


Nürnberg.

11. Vorstellung im zweiten Quartal des siebenten Jahres-Abonnements.


Mittwoch, den 16. September 1807:

Die beiden Klingsberge.

Lustspiel in fünf Aufzügen, von Kotzebue.


Personen:


Graf KlingsbergHr. Braun.

Graf Adolf Klingsberg, sein Sohn,

in Militärdiensten* * *

Grafin Wellwart, geborene Klingsberg,

des alten Grafen SchwesterMad. Miswit.

Lieutenant Baron SteinHr. Wagner.

Henriette, seine SchwesterDem. Epp.

Amalie FriedbergDem. Wetzel d. ä.

Krautmann, Pächter auf des Grafen

GüternHr. Wetzel.

Frau Wunschel, ZimmervermietherinMad. Reuter.

Balthasar Schwalbenschweif,

Kammerdiener des alten GrafenHr. Pleißner.

Ernestine, der Gräfin KammermädchenMad. Schulz.[96]

Jacob, Bedienter der GräfinHr. Fanschn.

Ein BedienterHr. Dirmann.

Ein MädchenDem. Wetzel d. j.


Die Scene ist in Wien.

* * * Hr. Anschütz als Gast.

Reserve-Loge 1 fl. 12 kr., Loge im ersten Range 1 fl., Parterrelogen 48 kr. Erstes Parterre 36 kr. Zweites Parterre 24 kr. Gallerie 15 kr. Letzter Platz 9 kr.

Die Casse wird um 4 Uhr geöffnet. – Anfang um 5 Uhr. Ende gegen 8 Uhr.1


Der Nachmittag erschien mir endlos, und im Theater war es noch finster und leer, als ich schon die Garderobe aufsuchte, um doch wenigstens an Ort und Stelle zu sein. Es war kaum drei Uhr, aber ich begriff nicht, wie die anderen Mitglieder so lange ausbleiben konnten; ja ich fürchtete allen Ernstes, sie möchten sich verspäten und die Vorstellung ein Hinderniß erleiden.

Endlich versammelten sich die Mitwirkenden auf der Bühne. Von mehreren Seiten wurde ich gefragt, ob ich nicht etwas befangen wäre. Ich konnte es vom Herzen verneinen. Ich hatte nur eine Sorge, nämlich, daß es noch immer nicht angehen wollte.

Ich habe von der Natur eine Eigenschaft als Mitgift erhalten, die wenige Schauspieler mit mir theilen dürften. Ich habe nämlich seit dem ersten Schritte auf die Bühne durch[97] meine ganze Theaterlaufbahn nicht kennen gelernt, was Lampenfieber oder auch nur Befangenheit ist. Nicht bei Vorstellungen, die über ein Engagement entscheiden sollten, nicht bei ersten Gastspielen an den bedeutendsten Bühnen habe ich die Bekanntschaft dieses Schauspielerdämons gemacht, der so häufig preiswürdige Leistungen der besten Talente bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und manchen begabten Schauspieler an der Ausbildung seiner Fähigkeiten und an der Ernte seines Fleißes hindert. Ja manches Talent ist vielleicht bloß an dieser Krankheit elend untergegangen.

Mich bewahrte davor in der ersten Zeit der Drang nach den Lampen und als ich mit den wachsenden Erfolgen meiner Kraft vertrauen lernte, schützte mich das Bewußtsein, mit meiner Aufgabe vollständig fertig zu sein, so weit ich es im Stande bin. Ich räsonnirte immer im Stillen: »Gefällt es Euch, gut für Euch und mich. Ein Schelm thut mehr, als er kann.«

Allerdings unterstützten mich in meinen Kunstbestrebungen folgende wichtige und fast unentbehrliche Factoren:

1. Ein Körperbau, dessen festgefügtes Nervensystem einer ängstlichen und überreizten Phantasie unzugänglich war.

2. Ein scharfes und sicheres Auge, das mir mit geringer Veränderung bis an das Ende meiner Laufbahn treu geblieben ist.

3. Eine Art philosophischer Ruhe, die ich mir im Bewußtsein meiner physischen Eigenschaften zu erwerben strebte, wobei sich mir die Ueberzeugung aufdrängte, daß der Schauspieler nur bei innerer Ruhe im Stande sei, seine Aufgabe zu[98] überblicken, die Ausführung anzuordnen und durch zweckmäßige Vertheilung seine Mittel zu beherrschen.

4. Ein Sprachorgan, das hinreichenden Wohllaut und durch spätere Ausbildung so viel Umfang, Gewalt und Ausdauer erhielt, daß ich mit Sicherheit auf jeden Ton rechnen konnte, sobald ich ihn mir beim Memoriren der Rolle gedacht hatte. Darin erlangte ich eine solche Fertigkeit, daß ich nicht nöthig hatte, meine Rollen laut zu studiren. Ich flüsterte kaum beim Lesen, aber wenn ich auf die erste Probe kam, so stellte sich jede Nuance ein. Ich würde bei der Unzahl von erschöpfenden Rollen, die sich in sechzig Theaterjahren zusammendrängen, auch schwerlich bis heute den Wohlklang der Stimme und selbst die Gewalt derselben in verhältnißmäßig so hohem Grade bewahrt haben, wenn ich gleich so vielen meiner verdientesten Collegen mit lauter Stimme memorirt hätte. Ich habe mein Organ als meinen Reichthum betrachtet und mir immer in das Gedächtniß gerufen, daß ich nur so lange würde künstlerisch wirken können, als mir dieses Instrument treu bliebe. Ich habe daher auch seiner Erhaltung jedes Opfer gebracht. Der aufrichtige Wunsch, so viel als möglich zu leisten und der heiligen Kunst so lange als möglich zu leben, bewahrte mich vor den Ausschweifungen der Jugend, vor übertriebenen Tafelfreuden und vor der verderblichen Gewohnheit der Nachtschwärmerei und der Zechgelage, ohne mich deshalb vor ausnahmsweisen Excessen oder vor geselligen Genüssen zu verschließen. Wenn ich eine bedeutende Aufgabe vor mir hatte, so vermied ich es nach Möglichkeit, mich einer besonders stürmischen Witterung auszusetzen; am Tage einer[99] erschöpfenden Darstellung strengte ich mein Organ weder auf Proben noch im Gespräche an; auch trank ich kurz vor der Vorstellung selten Kaffee, niemals Spirituosen und unterließ in den Nachmittagstunden gewöhnlich auch das Tabakrauchen. Wenn mein Organ leidend war, so ließ ich trotz meines ungewöhnlichen Pflichtgefühles lieber absagen; wenn aber dringende Verhältnisse meine Mitwirkung dennoch forderten, so öconomisirte ich nach Möglichkeit und verzichtete lieber auf die volle Wirksamkeit der Rolle. Und diese Vorsicht kann ich meinen Collegen nicht genug empfehlen, wenn auch sämmtliche Theaterdirectoren gegen einen solchen Reformator »Steiniget ihn!« schreien. Die Ueberbürdung und den frühen Verlust des Organes kann kein Director bezahlen, und wenn sich ein Schauspieler aus Gefälligkeit für Hinz oder Kunz opfert, was ist der Dank? »Er ist nicht mehr zu brauchen,« heißt es; »er packt nicht mehr.« Und man wirst die ausgepreßte Citrone weg. Und selbst wenn der Schauspieler sein leidendes Organ ausnahmsweise ohne nachtheilige Folgen anstrengen muß, was ist sein Lohn? Der Director brummt: »N. N. war sehr matt, er hat die ganze Vorstellung ruinirt.« Das Publicum sagt: »N. N. soll nicht auftreten, wenn er indisponirt ist; für sein Geld will man doch was Ordentliches sehen!« Der Kritiker aber, wie billig, urtheilt nach dem, was er gesehen.

Der letztere Fall ist mir aus meinem eigenen Leben in der unangenehmsten Erinnerung geblieben. Tieck besuchte Wien im Jahre 1825. Man wollte ihm den »Lear« vorführen und ich wurde gedrängt, die Rolle mit einer katarrhalischen Affection des Organes zu spielen. Es gelang mir zwar, die[100] schmeichelhafteste Anerkennung des gefeierten Kritikers über meine Gesammtleistung zu erringen, mußte mir aber in seinen kritischen Schriften, deren Inhalt in die Kunstgeschichte übergeht, den unverdienten Vorwurf machen lassen, daß ich mitunter ohnmächtige Laute vorbrächte und nicht das gehörige Portamento besäße. Und Tieck war in seinem vollen Rechte, das zu behaupten. Warum war ich der Thor, vor diesen Mann zu treten und sein Urtheil herauszufordern in dem Augenblicke, wo die Natur mir die ungeschmälerte Ausführung meiner Intentionen versagte?

5. Ein schnell fassendes und für den Augenblick unfehlbares Gedächtniß. Ich konnte bis in ziemlich vorgerückte Jahre binnen wenigen Stunden oder mindestens über Nacht eine sehr umfangreiche Rolle memori ren und selbst zur Zufriedenheit darstellen, wenn ich gleich mir nicht genügte. Aber ich konnte selbst häufig gespielte Rollen, Rollen, mit denen ich so zu sagen verwachsen war, nicht ohne bedeutende Vorbereitung liefern. Vier-, fünf-, auch sechsmal mußte ich jede bedeutende Rolle repetiren, wenn ich sicher sein wollte, und eine vollständige Darstellung war mir nur möglich, wenn ich wenigstens den Tag vorher davon benachrichtigt wurde. Kam der Fall vor, daß ich bei plötzlicher Abänderung einer Vorstellung kurz vor Beginn des Theaters zum Dienste gefordert wurde, so mußte ich meine Rolle hinter den Coulissen von einer Scene zur andern um so sorglicher repetiren, als ich bis heute die zweifelhafte Kunst, auf den Souffleur zu spielen, nicht erlernt habe. Im regelmäßigen Dienste war ich meiner Sache stets so gewiß, daß ich lange Jahre beim Theater wirkte und noch nicht[101] wußte, was »Versprechen« heißt. Es kommen in meiner ganzen Laufbahn vielleicht kaum ein paar Dutzend Fälle vor, und davon selbst der größere Theil erst vom 75. bis zum 80. Jahre.

Mit diesen Eigenschaften ausgerüstet, harrte ich am 16. September 1807 nach dem Verklingen der Ouverture und dem Aufrollen des Vorhanges meinem Stichworte mit Ungeduld entgegen und stürzte förmlich zur Thür hinaus, als es endlich an meine Ohren schlug.

Vor den Lampen fühlte ich meine Brust erst ganz frei. Gott sei Dank, nun durfte ich ja wirklich spielen! Als das erste Zeichen des Beifalls ertönte, war ich über alle Bedenken hinweg und so zu Hause auf der Bühne, als hätte ich bereits Jahre in ihrem Dienste zugebracht. Nicht der geringste Unfall passirte mir und das Publicum begleitete mein Theaterprimiziat mit dem freundlichsten Wohlwollen.

Der kühne Wurf war gelungen, der Zweck meiner Reise erreicht!

Das directoriale Kleeblatt sprach mir seine Befriedigung aus und als ich am nächsten Morgen die Erlebnisse meiner Reise und das Factum meines Debuts nach Leipzig berichtete, konnte ich meiner besorgten Mutter zugleich melden, daß ich für das Fach der jugendlichen Liebhaber und Helden mit 30 fl. rheinisch per Monat engagirt sei.

Ich war also veritabler engagirter Held und Liebhaber! Wer konnte sich mit meinem Glücke messen? Wie beklagenswerth kamen mir alle meine früheren Freunde und Bekannten[102] vor, die der Bestimmung entgegengingen, ihr Leben in ängstlichen Dienstesverhältnissen zuzubringen.

Freitag, nach der Vorstellung der »beiden Klingsberg«, wurde mir sofort für den nächsten Sonntag die Rolle des Don Manuel in der »Braut von Messina« angesagt. Ich erschrak darüber.

»Schon übermorgen?« wendete ich ein.

»Eine gespielte Rolle? Warum denn nicht?«

Richtig! Nach meinem erdichteten Rollenrepertoire hatte ich die Rolle schon gespielt. Ich durfte mir daher vor der Hand noch nichts merken lassen, bevor ich mein Examen in der Tragödie vollendet hatte.

Es muß gehen, dachte ich. Ich verließ mich auf mein Gedächtniß und auf Schiller's melodische, leicht faßliche Verse, die mir ja zum größten Theile bekannt waren. Ich wendete einen Theil der Nacht an mein Studium und als ich Samstag zur Probe kam, war ich der Sicherste im ganzen Stücke.

Bei dieser zweiten Vorstellung zeichnete mich das Publicum bereits auf das Schmeichelhafteste aus und meine Stellung in Nürnberg war fest begründet. Um aber ähnlichen plötzlichen Anforderungen im Interesse meiner Kunst auszuweichen, fand ich nach der Vorstellung doch für gut, den nunmehr unschädlichen Betrug einzugestehen. Hierüber zeigten sich Reuter und Braun allerdings nicht wenig überrascht; doch erregte mein keckes Wagestück nur noch ein herzliches Lachen.

Meine dritte Rolle war eine naive, nämlich der Bauernbursche in dem Singspiel: »Das Geheimniß.« Hierin passirte es mir, daß ich in der Nachlässigkeit des Tones zu weit ging[103] und mir aus dem Publicum ein »Lauter« entgegengerufen wurde. Ich war zwar etwas betroffen, erhob aber sogleich die Stimme und die Zuschauer riefen: »Bravo!«

Nun folgten immer bedeutendere Rollen in rascher Folge und mit sehr beschränkter Studierzeit und ich kann sagen, daß ich in der ersten Theaterperiode nur zweimal in der Woche ausschlief, nämlich nach den Vorstellungen am Mittwoch und Sonntag; die übrigen Nächte mußten zum Theil für Bewältigung der Rollen verwendet werden.

Das Nürnberger Theater gab damals in jeder Woche vier Vorstellungen. Am Montag und Donnerstag war Oper, Mittwoch gewöhnlich ein Lustspiel und Sonntag ein größeres Schauspiel oder Trauerspiel. Man hatte daher zum Studium einer Luftspielrolle nur Montag und Dienstag, zum Studium einer tragischen Rolle Donnerstag, Freitag und Samstag. Nebenbei mußte in damaliger Zeit Jeder, der etwas Singstimme besaß, nach Bedarf auch in der Oper mitwirken, so wie reciproce die Sänger im recitirenden Schauspiele.

Ich mußte noch in demselben Winter einen großen Theil der ersten jugendlichen Helden und Liebhaber spielen, wie Mortimer, Max Piccolomini, und schon im Frühjahr 1898 fiel mir die Aufgabe zu, den »Hamlet« nach Schröderzuübernehmen.

Beim Studium dieser Rolle, die mir, wie begreiflich, eine der anregendsten Aufgaben meines Schauspielerlebens war, benützte ich als den hauptsächlichsten Leitfaden Schink's Broschüre über Brockmann's »Hamlet«. Ich kann meinen jüngeren Collegen, die sich mit der Darstellung dieser Rolle beschäftigen, dieses Schriftstück nicht genug empfehlen. Wenn ich auch nicht jede[104] Bemerkung und Ansicht im Einzelnen als unfehlbar bezeichnen will, so hat doch Schink nach meiner Ueberzeugung Shakespeare's »Hamlet« in seiner ganzen Tiefe erfaßt und ich stehe keinen Augenblick an, zu erklären, daß ich einen großen Theil des bedeutenden Erfolges, den ich mit Hamlet in Königsberg, in Breslau und bei meinem Gastspiele in Wien errang, der Anleitung dieses geistreichen Kritikers verdanke.

Ich weiß sehr wohl, daß sich in unseren Tagen die Ansichten über die Hamlet-Darstellung gegen früher gewaltig modificirt haben und daß es kaum einen Schauspieler gibt, der sich im Allgemeinen zu den ehemaligen Auffassungen über diese Rolle bequemt. Die bedeutendsten und die verdientesten Schauspieler führen heutzutage den Hamlet im Style der gewöhnlichen Helden durch, während doch eben das Tragische von Hamlets Mißgeschicke darin besteht, daß es ihm an jener Thatkraft fehlt, in einer Zeit, die eines Helden bedurft hätte, um sein Reich und sein Haus von dem gigantischen Schicksalsschlage zu befreien, an dem es vor unseren Augen zusammenbricht.

Daß ein Bühnencharakter von so riesigen Umrissen wie Hamlet in verschiedenen Momenten eine abweichende Auffassung zuläßt, werde ich nicht bestreiten. Der wirklich geistreiche Schauspieler kann gewissermaßen auch auf sich anwenden, was Schiller in seinem reizenden Räthsel von der Poesie sagt:


»Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke,

Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.«


Nur auf ein paar Momente will ich hier aufmerksam[105] machen, worin ich mit mehreren der anerkanntesten meiner jüngeren Collegen nicht einverstanden bin.

In der Begegnung mit dem ehrwürdigen Schatten seines Vaters wird Hamlet's Ahnung von dem Verbrechen seines Hauses zur Gewißheit. Ueberwältigt von der erschütternden Kunde, steht er zweifelnd, ob er auch recht gehört; er sucht in seinem Gedächtniß festzuhalten, was ervernommen, und bricht in die Worte aus: »Schreibtafel her! Hier (im Gedächtniß) steht ihr, Oheim, hier, ich muß mir's niederschreiben, daß einer lächeln kann, und immer lächeln, und doch ein Schurke sein.« Die neueren Darsteller ziehen bei diesen Worten wirklich eine Brieftasche hervor und schreiben im Finstern mit Bleistift hinein. Ich habe nie verstehen können, was Hamlet davon hat, daß er den Namen Claudius und die nachfolgende Bemerkung aufschreibt, während es so nahe liegt, daß er das Unglaubliche in sein Gedächtniß zu zwingen sucht. Er sagt es sich selbst, daß er einem immer lächelnden Schurken ohnmächtig gegenübersteht, und da ihm an Claudius' Hofe Macht und Einfluß fehlen, das Verbrechen öffentlich zu entlarven, so nimmt er zur Verstellung seine Zuflucht. Auch hat ihm ja des Vaters Geist befohlen, nichts gegen seine Mutter zu unternehmen. Wird er also die ganze Geschichte zu Papier bringen? Eine so materielle Auffassung erinnert mich an eine andere Anecdote, derzufolge eine Darstellerin der Gräfin Trezky für die Stelle in der letzten Scene: »Und liefre hier (in meiner Person) die Schlüssel,« vom Theaterrequisiteur einen Bund Schlüssel begehrte.

Ein zweiter Moment, der mir in der modernen Hamletdarstellung[106] widerstrebt, ist die Schauspielscene im dritten Acte. Auf den Aufbruch des Königs und auf den Ruf Opheliens: »Der König steht auf!« sagt Hamlet: »Was? Durch falschen Feuerlärm geschreckt?« Und nachdem Alle fort sind, summt er, frohlockend über die Wunde, die er dem Könige geschlagen, eine Strophe eines damals bekannten Liedes vor sich hin: »Ei, der Gesunde hüpft und lacht, dem Wunden ist's vergällt; der Eine schläft, der Andere wacht, das ist der Lauf der Welt.«

Bei diesen Worten stellen sich die jüngeren Schauspieler hoch aufgerichtet vor den König und donnern ihm diese Worte in das Ohr, indem sie ihn bis an die Coulisse umtanzen. Auf diese Nuance, von begabten tragischen Schauspielern ausgeführt, folgt ein stürmischer Applaus. Ich bin gern überzeugt, daß solch' eine Auffassung des Moments auf künstlerischen Ansichten beruht, aber mir scheint sie eine irrige zu sein. Denn wenn König Claudius von Hamlet so schonungslos preisgegeben würde, mußte wohl augenblicklich die Verhaftung des Hochverräthers erfolgen. Wozu auch noch die weitere Verstellung Hamlet's, wenn er die Maske schon nach dem Schauspiele abwirft?

Das erste bedeutende Ereigniß in meiner Theaterlaufbahn war die Erscheinung der gefeierten Händel-Schütz, welche im Februar 1808 zu einem längeren Gastspiele in Nürnberg eintraf und dasselbe als Johanna d'Arc eröffnete, wobei ich den Lionel spielte.

Diese Künstlerin, welche ich später in Breslau näher kennen lernte, interessirte mich nicht nur wegen ihres wirklich ungewöhnlichen, wenn auch begrenzten Talentes, sondern nicht[107] weniger durch ihren weiteren Lebenslauf und ihr Ende. Ihr unstäter Geist dürstete nach Abwechslung und die engen Verhältnisse einer Häuslichkeit konnte sie selbst in viermaliger Ehe nicht ertragen lernen. Ihr ganzes Leben neigte zu dem Abenteuerlichen und Excentrischen. Aber dennoch übertraf ihre letzte, selbst gewählte Lebensstellung auch die kühnsten Erwartungen, welche man von einer künstlerischen Natur mit idealer Richtung hegen konnte. Als nämlich die Theaterverhältnisse ihren Wünschen nicht mehr entsprachen, entsagte sie ihrer Bühnenwirksamkeit freiwillig und erwählte die Profession einer Hebamme, wofür sie seltsamer Weise eine leidenschaftliche Vorliebe gefaßt und schon längst die erforderlichen Studien gemacht hatte. Sie hatte schon während ihrer Theaterlaufbahn an verschiedenen Orten ihre Fähigkeit uneigennützig ausgeübt und ich erinnere mich der Aeußerung aus ihrem Munde: »Wenn sie mich einmal in den Adelstand erheben, so müssen sie einen Gebärstuhl in mein Wappen setzen.« Endlich widmete sie sich ihrem Lieblingsberufe ungetheilt und starb als Geburtshelferin in Halle.

Die Händel-Schütz war in tragischen Rollen nicht ohne auffallende Manier; namentlich mußte man sich an einen etwas singenden Ton im Vortrage gewöhnen, zu welchem ihre melodramatischen Darstellungen nicht wenig beigetragen haben mögen. Aber sie war doch jedenfalls eine bedeutende Kunsterscheinung und namentlich in ihren mimischen Tableaux und in ihren Melodramen war sie virtuos.

Ich schien in tragischen Situationen ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben, denn sie zog mich vorzugsweise zu allen ihren[108] bedeutenderen Darstellungen. Unwillkürlich erhöhte sich dadurch mein Selbstbewußtsein, mein Selbstvertrauen und die Ueberzeugung stellte sich in mir fest, daß das tragische Element, als mein angewiesenes Feld, vor allen auszubilden sei.

Die Händel-Schütz war kaum ein paar Tage in Nürnberg, als sie den Volksdichter Grübel, den modernen Hanns Sachs Nürnbergs, einladen ließ, sie in ihrer Wohnung zu besuchen.

Grübel war damals eine Name von gutem Klang in der Literatur. Goethe hatte ihm seine kritische Aufmerksamkeit zugewendet und namentlich in Norddeutschland fehlten Grübel's Gedichte in Nürnberger Mundart auf keinem Theetische, in keinem Boudoir. Selbst in Concerten wurde sein »Peter in der Fremde«, sein »Buchhalter« etc. mit Vergnügen aufgenommen.

Grübel wohnte in einem unansehnlichen Hause in der Vorstadt; dort habe ich ihn selbst besucht. Der Flur trennte seine Werkstatt von der Studierstube. In letzterer stand ein alterthümlicher Schreibtisch, und davor ein nicht viel jüngerer Lehnstuhl. Hier schuf der ehrliche »Stadtflaschner und Volksdichter«, wie er sich selbst nannte, seine harmlosen, anmuthigen Lieder; er selbst war der Abdruck seiner Gedichte: gutmüthig, anspruchslos, eine einnehmende Greisengestalt voll Leben und Feuer und doch in seinem ganzen Benehmen nichts weiter als der ehrenwerthe handfeste Gewerbsmann.

Ich war zugegen, als er bei der Händel-Schütz eintrat. Exaltirt, wie sie war, lief sie auf ihn zu, umarmte ihn und küßte den alten Mann so herzhaft, daß dieser nicht wenig überrascht[109] war von solcher Ovation einer so gefeierten Frau. Aber geschmeichelt hat es dem alten Knaben doch und die poetische Huldigung an die Händel-Schütz, welche in seinen Gedichten vorkommt, mag von der enthusiastischen Anerkennung, welche ihm die Künstlerin zollte, nicht ganz unabhängig gewesen sein. Es war wohl eine seiner letzten Freuden, denn am 12. März 1809 trugen wir den würdigen Alten zu Grabe.

Eine andere, für mich höchst interessante Bekanntschaft dieser ersten Theaterzeit war der in Nürnberg domicilirende Medicinalrath van Hoven, der bekannte College Schiller's aus der Carlschule. Durch Hoven erfuhr ich so manche reizende Anecdote aus Schiller's Schulzeit, aus der Räuber-Periode und als er von Schiller's Schauspielerversuchen sprach, meinte er scherzend: »Er (Schiller) hat halt alleweil die Helde spiele wolle und er war halt ein grundschlechter Schauspieler.«

Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 95-110.
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