Zwölftes Kapitel

Und wieder vor neuen Aufgaben

[86] Ein Aufruf, den ich in der »Gleichheit« erließ, leitete die Arbeit ein. Ich mußte, um den festen organisatorischen Halt zu gewinnen, der für eine einheitliche, planmäßige Regelung der Agitation notwendig war, mit den Frauen im ganzen Reich, die in unserem Sinne arbeiteten, in Verbindung stehen, in diesem Netz von Vertrauenspersonen der proletarischen Frauen mußte sich Masche an Masche knüpfen und alle Fäden mußten in meine Hand laufen.

Die erste Aufgabe bestand darin, die Wahl weiblicher Vertrauenspersonen zu veranlassen. An alle Orte, aus denen mir Adressen von Genossinnen oder Genossen bekannt waren, sandte ich das inzwischen gedruckte Regulativ mit einem Anschreiben. Bereits Ende Januar 1901 waren daraufhin in 25 Orten weibliche Vertrauenspersonen gewählt worden. Nach dem ersten Vierteljahr konnte berichtet werden, daß zur Einleitung der Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz außer unseren Forderungen von der inzwischen gewählten Flugblattkommission ein allgemein verständliches, den Arbeiterinnenschutz behandelndes Flugblatt ausgearbeitet und in einer Auflage von Tausenden von Exemplaren verbreitet worden war.

Die Forderungen, die wir bei unserer Agitation immer wieder in den Vordergrund stellten, waren die folgenden:

1. Absolutes Verbot der Nachtarbeit für Arbeiterinnen.

2. Verbot der Verwendung von Arbeiterinnen bei allen Beschäftigungsarten, welche dem weiblichen Organismus besonders schädlich sind.

3. Einführung des gesetzlichen Achtstundentags für Arbeiterinnen.

4. Freigabe des Sonnabendnachmittag für Arbeiterinnen.

5. Aufrechterhaltung der gesetzlich festgelegten Schutzzeit für erwerbstätige Schwangere und Wöchnerinnen vier Wochen vor und sechs Wochen nach der Niederkunft. Beseitigung der Ausnahmebewilligungen[87] zu früherer Wiederaufnahme der Arbeit auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses. Erhöhung des Krankengeldes für Schwangere bzw. Wöchnerinnen auf die volle Höhe des durchschnittlichen Tagelohnes. Obligatorische Ausdehnung der Krankenunterstützung der Wöchnerinnen auf die Frauen der Krankenkassenmitglieder.

6. Ausdehnung der gesetzlichen Schutzbestimmungen auf die Hausindustrie.

7. Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren.

8. Sicherung völliger Koalitionsfreiheit für die Arbeiterinnen.

9. Aktives und passives Wahlrecht der Arbeiterinnen zu den Gewerbegerichten.

In der Resolution, mit der die Forderungen veröffentlicht wurden, ist jede einzelne ausführlich begründet worden.

Mehr als 150 Briefe, teils Antworten auf Anfragen, teils Anregungen für die Agitation zugunsten des Arbeiterinnenschutzes, wurden versandt. In Form einer Petition wurden unsere Forderungen auch zur Kenntnis der bürgerlichen Parteien des Reichstags gebracht. Wo die Frauen noch nicht zur Mitarbeit imstande waren, da suchten die Genossen das Interesse für den Arbeiterinnenschutz zu wecken und führten eine lebhafte Agitation zur Aufklärung der Frauen. Neben vielen Einzelversammlungen, in denen Frauen sprachen, haben Agitationstouren stattgefunden, so in Sachsen, in den Hamburger Kreisen, im Vogtland, auch im Thüringer Wald, in den elenden Zentren der Spielwaren-, Glasperlen- und Griffelindustrie und unter den armen schlesischen Arbeiterinnen wurde das Werk der Aufklärung betrieben. Erhöhte Aufmerksamkeit wurde der Mitarbeit der Frauen in den Gewerkschaften zugewendet. Eine bedeutende Anzahl neuer Mitglieder konnte durch Frauenvorträge den Gewerkschaften zugeführt werden. Auch an Fabrik-und Werkstattsitzungen nahmen die Genossinnen teil, um die weiblichen Arbeiter für die Organisation zu gewinnen.

Neben dieser uns durch den Parteitag gestellten Aufgabe waren es wirtschaftliche Nöte, die die Frauen auf den Plan riefen. Die Kohlennot, die Wohnungsfrage, später der Milchwucher brachten in den Wintermonaten Tausende von Arbeiterfrauen in die schwerste Bedrängnis. Dazu kam die Erhöhung der Getreidezölle sowie der Zölle auf alle übrigen landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die eine ungeheure[88] Preissteigerung auf alle Lebensmittel mit sich bringen mußte. Das bedeutete Hunger und Entbehrung für die breiten Massen des arbeitenden Volkes; die Reichstagsfraktion forderte daher zu energischer Protestaktion gegen dieses Treiben der Junker auf.

Auch wir mußten mit allen Kräften in die Agitation hinein, um den Frauen die Augen über die Ursachen ihrer wirtschaftlichen Notlage zu öffnen.

Auf dem nächsten Parteitag in Lübeck beantragten wir die Herausgabe eines besonders für die Frauen geeigneten Flugblatts, das in leichtfaßlicher Darstellung über den Zollwucher und seine gemeingefährlichen Folgen belehrt. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen.

Lebhafte Anteilnahme in der gesamten deutschen Arbeiterschaft erweckte 1901 ein Lohnkampf der Weber und Weberinnen im Cunewalder Tal in der Sächsischen Oberlausitz. Hier herrschten fast mittelalterliche Zustände. Geduldig, ohne Murren trugen sie ihr Hungerleben, bis die Abzüge, um die die Fabrikanten die bettelhaften Löhne noch kürzen wollten, auch diese Lohnsklaven zum Widerstand aufstachelten. 580 Arbeiter waren von den Unternehmern in den Streik getrieben worden, darunter 450 Frauen und Mädchen. Die Arbeiter warteten in Schnee und Regen des Morgens vor 6 Uhr auf dem Fabrikhof auf die Entscheidung.

»Wenn ihr zu den neuen Löhnen arbeiten wollt, so schließe ich auf und lasse Dampf«, lautete die Erklärung des Fabrikanten.

»Für die paar Pfennige arbeiten wir nicht mehr«, klang ruhig und bestimmt die Antwort der Weber und Weberinnen.

In der ersten Versammlung erschienen viele Arbeiterinnen mit dem Gesangbuch in der Hand. Die Streikenden waren bis dahin ohne Fühlung mit der Arbeiterbewegung gewesen. Nun aber wendeten sie sich an die organisierten Arbeitsbrüder in Dresden. Entsetzt rief darob der Amtsblattredakteur von Cunewalde: »Man hat dem Sozialismus Tor und Tür geöffnet.« Amtshauptmann und Gewerbeinspektor suchten zu vermitteln, doch die Unternehmer in ihrem Protzenhochmut wiesen den Beamten die Tür. Die kleinen Geschäftsleute des Cunewalder Tales litten schwer, manch eine Existenz ging zugrunde. Die Kreishauptmannschaft von Bautzen, die Handelskammer von Zittau, hohe Geistliche, die adligen Rittergutsbesitzer der Gegend, die Fabrikanten der übrigen Lausitz, die unter der Cunewalder Schmutzkonkurrenz[89] litten, bemühten sich, die Fabrikanten zu einem Friedensschluß zu bewegen, den die Arbeiter annehmen konnten. Alles erfolglos. Die Solidarität der Arbeiterklasse hat im Bunde mit der bewundernswürdigen Haltung der Streikenden die Hoffnung der Unternehmer zuschanden gemacht. Die Kriegsmunition ging anfangs spärlich ein. So konnte in den ersten zwei Wochen für die Person nur 1,50 Mark Unterstützung gezahlt werden, nach weiteren zehn Tagen 2,50 Mark, dann 3,50 Mark. Als am Himmelfahrtstage 4,50 Mark ausgezahlt werden konnten, schoben manche die 50 Pfg. zurück, weil sie meinten, es sei zuviel. Später konnten dann 5, – und 6, – Mark ausgezahlt werden und für jedes Kind 50 Pfg. Es fanden sich keine Streikbrecher. 19 Wochen dauerte der Kampf, der für die Arbeiter mit einem ganzen Siege endete. Allerdings hatten sich während der Dauer des Streiks die Reihen der Kämpfenden gelichtet, weil viele den Ort verlassen hatten, um entweder in der Landwirtschaft oder anderswo Beschäftigung zu finden.

Neben dem materiellen Siege der Arbeiterschaft war der moralische von größter Bedeutung, er hat sie in lebendigen Zusammenhang mit der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung gebracht. Aber er hat auch gezeigt, daß das Weib wohl imstande ist, auszuharren und das größte Elend zu ertragen, wenn es um einen gerechten Kampf geht.

Auch auf anderen Gebieten zeigten sich jetzt für die Frauen Erfolge. Zur Armen- und Waisenpflege sollten Frauen herangezogen werden. Rixdorf wollte mit der Anstellung von Waisenpflegerinnen einen Anfang machen, auch unbesoldete Kommunalämter sollten Frauen übertragen werden. Der deutsche Städtetag sprach sich in seiner Tagung dafür aus, und Stadtrat Münsterberg erklärte die Tätigkeit der Frauen auf diesem Gebiete nicht nur für notwendig, sondern für unersetzlich. Daß das noch nicht bedeutete, daß auch Arbeiterfrauen hier herangezogen werden sollten, lag auf der Hand. Die Berliner Genossinnen entfalteten aber eine lebhafte Agitation für die Kommunalwahlen. In einer Versammlung sprach Genosse Bebel über das Interesse der Frauen an den Gemeindewahlen.

Quelle:
Baader, Ottilie: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. 3. Auflage, Berlin, Bonn 1979, S. 86-90.
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