Die Jenaer Verlagstätigkeit bis zum Weltkrieg

[38] Es war ein Sonderzug von etwa zwanzig Güterwagen, der sich Ende März 1904 von Leipzig nach Jena zur Übersiedlung in Bewegung setzte, angefüllt mit Bücherballen, sperrigen Regalen, Kontormöbeln und dem Hausmobiliar des Chefs und der etwa acht bis zehn Angestellten, die samt und sonders mit übersiedelten und froh waren, der Großstadt zu entrinnen.

Der Entschluß und die Durchführung zur Übersiedlung kam ganz plötzlich, im ganzen dauerte es nur etwa vierzehn Tage. Ich wollte einfach aus allerlei persönlichen Gründen mich in eine Kleinstadt verpflanzen, und Jena schien als Universitätsstadt mir als geborenem Thüringer am geeignetsten. Auch zog mich seine klassische Tradition. Aber es währte noch zwei Jahre, ehe ich in mein jetziges Geschäftshaus am Carl Zeiß-Platz, als unmittelbarer Nachbar der Weltfirma Carl Zeiß, am 1. April 1906 übersiedeln konnte. Vorerst mußte die erste Etage in der »Hopfenblüte«, einer Gastwirtschaft in der Jenergasse, genügen.

Die Jenaer zehn Jahre bis zum Weltkrieg ergaben den eigentlichen Ausbau des Verlages, dessen Stellung im deutschen Verlagswesen zuletzt seine bevorzugte Stellung in der Kulturhalle der Bugra in Leipzig 1914 zum Ausdruck brachte. Er wurde von dem Leiter der kulturgeschichtlichen Abteilung dieser Buchweltausstellung, dem bekannten Geschichtsprofessor Karl Lamprecht an der Leipziger Universität, als der einzige deutsche Verlag ausersehen, der in einer systematischen Entwicklung des Schreib- und Buchwesens von der ältesten Zeit bis zum Heute in der Halle der Kultur die Gegenwart zu verkörpern hatte. Eine Art Kapelle, stimmungsvoll durch ein paar Naumburger Domfiguren geschmückt, zeigte den Aufbau des Verlages in innerlich zusammenhängenden Gruppen. Oben an den vier Wänden des in einer Art romanischer Formensprache und in bläulichem Licht gehaltenen Raumes liefen als Fries die überlebensgroßen Köpfe seiner hauptsächlichsten Autoren in Photographien. Über dem Eingang hingen in rundem Kreis die beiden[38] Köpfe seiner beiden wichtigsten Buchkünstler E.R. Weiß und F.H. Ehmcke.

Lamprecht hat sich damals geäußert, seine Einstellung zu meinem Verlag sei der Auftakt zum Vorschlag an die Leipziger Universität, mir den Doktortitel zu verleihen. Der Krieg kam dazwischen und 1924 hat dann die Kölner Universität diese Auszeichnung nachgeholt.

Es ist nicht meine Absicht, in diesen Blättern eine Verlagsgeschichte zu geben, sondern nur den Zusammenhang des Verlages mit seiner Zeit zu schildern. Der Leser habe also keine Angst vor Büchertiteln. In dem Jubiläumsalmanach von 1921 ist eine genaue Übersicht über die Verlagsproduktion nach den Jahren gegeben. Aber es ist nun einmal so, meine eigene innere Entwicklung geht meinem Werk parallel. Gar manche Bücher habe ich in Auftrag gegeben, weil ich für mich selbst wünschte, auf diesem Gebiet klar zu sehen und zu lernen, ebenso sprach manche persönliche Berührung oder auch manche Reise ins Ausland mit bei der Auswahl der Verlagswerke. Man hat das Wenigste aus sich selbst und verdankt seine Entwicklung anderen Menschen.

Die Spanne meiner persönlichen Weltkenntnis hatte sich seit der Verlagsgründung wesentlich erweitert. Sie ging von Island bis zum Kaukasus. Der germanische Norden war mir fast eine zweite Heimat geworden, zumal Kopenhagen. Aber auch in den vlämischen Städten fühlte ich mich heimisch, und die Reize der Weltstadt Paris oder des Engadins ließen mich manche Unvollkommenheit Jenas fühlen, das aber trotzdem die schönste Stadt der Welt für mich ist. Aber auch der Süden übte seine unveränderte Anziehungskraft aus, und es war mir sehr feierlich zumute, als ich auf der Akropolis stand oder in der Hagia Sophia in Konstantinopel. Der Verlag hatte auch den Kreis seiner ausländischen Autoren wesentlich erweitert, und als der Krieg ausbrach, hatte ich einige wichtige Staatsmänner unserer Gegner, wie Lloyd George und Masaryk, zu Autoren. Der Verlag war auch über Deutschlands Grenzen hinaus bei den Lesern bekannt geworden. So fuhr ich 1912 eines Tages von Belgrad auf dem[39] österreichischen Lloyddampfer über Orsowa nach Turn Severin in Rumänien. Auf dem Schiff waren kaum ein halbes Dutzend Passagiere, wir wurden schnell bekannt. Als mich der eine, ein stattlicher älterer Mann mit schwarzem Vollbart, den ich für einen echten Rumänen hielt, nach dem Zweck meiner Reise fragte, sagte ich etwas ausweichend: »Ich bin ein deutscher Verleger und will jetzt die Kultur der Balkanvölker studieren.« »Da sind Sie wohl Eugen Diederichs?« fragte mich mein Partner. Ich war baß erstaunt und fragte: »Woher kennen Sie als Rumäne meinen Namen?« »Ich bin«, antwortete er, »ein in London selbständiger deutscher Kaufmann, der hier in Geschäften reist.« Schon ein paar Tage früher war ich in der Bahn von Budapest bis Belgrad mit einem jungen Bankbeamten aus Temeswar ins Gespräch gekommen, einem Ungarn. Als ich ihm erzählte, daß ich in Jena wohne und ein Verleger sei, fragte er: »Da heißen Sie wohl Eugen Diederichs?« Nicht einmal in dieser dunklen Ecke Europas war man seines Inkognitos sicher. Fast noch merkwürdiger war, als im Nachtzug von Odessa nach Kiew einige Wochen später mein Gegenüber sich als russischer Buchhändler entpuppte und mir auf den Kopf zusagte, ich sei Eugen Diederichs aus Jena. »Woher wissen Sie denn das?« Da gab er mir lächelnd zur Antwort, als ich hinausgegangen sei, habe er das Schild auf meinem Koffer im Gepäcknetz gelesen. So geht manchmal auch das Wunderbare mit natürlichen Dingen zu.

Ich habe eingangs erwähnt, der Verleger müsse mit den Menschen seiner Umgebung außerhalb seines Berufes Gemeinschaft suchen. In der Großstadt ist der Mensch vereinzelt, hier in Jena ergab sich das von allein. Ich meine damit nicht den üblichen geselligen Familienverkehr oder die Vereinsmeierei. Kaum war ich in Jena etwas warm geworden, kämpfte ich als Führer einer Heimatschutzgruppe, die die dortigen jungen Künstler und Architekten umfaßte, gegen Stadiverschandelung und suchte die künstlerische Seite des Lebens gegenüber der in einer Universitätsstadt gewohnten Alleinherrschaft der Wissenschaft zu vertreten. Schon 1905 ließ ich mir[40] von der weimarischen Regierung die zum Abbruch bereiten Räume des alten Jenaer Residenzschlosses, das dem Neubau der Universität Platz machte, für einen Sommer lang zur freien Verfügung stellen und etablierte dort eine gar nicht so unbedeutende kunstgewerbliche Ausstellung der führenden deutschen Firmen. Ohne jede Unterstützung der Stadt oder des Jenaer Handwerks, das mir sehr übelnahm, daß ich fremde Konkurrenz in die Stadt herbeizog, ohne es zur Mitwirkung einzuladen. Nun, es war kein kleines Risiko, das alles auf eigene Kappe zu machen, aber das Defizit war tragbar. Sie wurde etwas gewaltsam »Schiller-Gedächtnis-Ausstellung« genannt und eine besondere Stube war daher ihm mit den entsprechenden Reliquien an seinen Jenaer Aufenthalt gewidmet. Die hauptsächliche Deckung der Unkosten geschah durch Vorträge. Den ersten hielt in höchsteigener Person der Urenkel Schillers, Alexander von Gleichen-Rußwurm. Er eröffnete auch die Ausstellung persönlich.

Jena ist eine Stadt der Jugend. So ergab sich von allein für mich ein Hineinwachsen in die Jugendbewegung, beginnend mit künstlerischen Sonnwendfesten, die ich von 1904 bis zur Jetztzeit geleitet habe. Wir haben in Deutschland infolge der Jugendbewegung eine Volkstanzbewegung gehabt; es wissen nur wenige, daß sie ihren Ursprung von diesen Sonnwendfesten auf den Hohen Leeden nahm. Der Wandervogel griff die Anregungen, die von unserem Kreise kamen, auf. Auch mancherlei Aufführungen haben wir auf jener Bergeshöhe gegenüber Dornburg mitten im Walde gehabt, manch gute Musik und künstlerischen Tanz. Und die Tradition aus jenen Tagen, die sich zu einer Reihe fester Gebräuche im »Serakreis« ausbildete, hält heute noch so weit vor, daß, nachdem dieser Kreis durch den Weltkrieg zerstreut ist (über die Hälfte seiner Teilnehmer liegt auf den Schlachtfeldern), mehrere Hundert einander fast fremder Menschen am Johannistag oben auf den »Hohen Leeden« sich heute noch als Gemeinschaft empfinden. »Sankt Johanne die Sunne wendt«, steht auf unserer Fahne, deren einziges Symbol das Sonnenrad war. Gar manchmal bin ich vor dem Krieg mit meinen[41] jungen Freunden, den Studenten und Weimarer Kunstschülern und-schülerinnen als Vagantenvater ins Saaletal und noch weitergezogen, und es gefiel meinem Ältesten, der damals noch Abcschütze war, so gut, daß er nach einer besonders lustigen Fahrt fragte: »Vater, wann gehen wir wieder betteln?«

Niemand ahnte auch in dem farbigen Vagantenvater einen Verleger, nur manchmal meldete ich mich in den letzten Zeiten vor dem Kriege auf einem Rittergut, auf einem Schloß oder bei dem Bürgermeister einer kleinen Stadt mit der Bitte um polizeilichen Schutz an, wenn wir auf dem Marktplatz Theater spielen wollten. Denn es kamen auch verständnislose Ablehnungen unserer Besuche vor und das störte doch die Stimmung des Tages. Wenngleich wir uns immer stolz wie die Spanier fühlten und es als selbstverständlich betrachteten, daß uns der betreffende Rittergutsbesitzer im Leiterwagen auf das nächste Rittergut fahren ließ. Natürlich erst, nachdem er uns an festlicher Tafel im Garten mit einem schmackhaften Imbiß bewirtet hatte.

Die letzte Vagantenfahrt ging zu Frau Elisabeth von Heyking in Crossen an der Elster, der Enkelin Bettinas und Verfasserin der »Briefe, die ihn nicht erreichten«. Drei Diener in weißen Handschuhen empfingen uns am Eingang ihres Schlosses. Die mich begleitende Abordnung verlas, nachdem vorher die Trompete geblasen und das Viatikum stilgerecht gesungen war, im Schloßhof den gewaltig drohenden Pergamentfehdebrief (zu dem die Buchbinderei Hübel & Denck in Leipzig eine metallene, an rotem Band getragene stilgerechte Hülle gestiftet hatte) mit ihrem besänftigenden Beschluß. Bald saßen die verstaubten Gesellen von der Landstraße in ihren farbigen Schauben und mit ihren ebenso malerischen Bacchantinnen an reichbesetzter Tafel in einem wunderschönen Rokokospeisesaal und tranken kühle Bowle oder köstlichen Kaffee zu dem auf großen Tellern aufgehäuften Kuchen. Doch wir zogen nicht auf Vagantenfahrten, um zu schlemmen, sondern mehr, um in solcher Art zu geben, wie es den »Lustigen von Weimar und Jena« geziemte.[42] Irgendein Hans Sachs-Stück im Freien machte den Anfang, dann kamen Volkstänze, dreistimmige Lieder erschollen und mancherlei wurde improvisiert. So waren wir auch einmal bei Max Klinger in seinen Jenaer Weinberg eingefallen. Zuerst wurde von einem benachbarten Weinberg aus angefragt, ob wir willkommen seien. Er lehnte ab. Aber es half ihm nichts, Vagantenrecht geht vor Ruhebedürfnis. Das Resultat nach einer guten Stunde war: der Meister holte höchst eigenhändig einige Flaschen selbstgezogenen Wein aus seinem Keller, plauderte lange mit uns und führte uns in Haus und Atelier herum. Später hörte ich dann durch einen gemeinsamen Bekannten, er hätte durch unseren Besuch eine schon vierzehn Tage andauernde Arbeitsunfähigkeit überwunden und könne nun wieder schaffen. Auch die Nachkommen der Frau von Stein in Schloß Großkochberg bedankten sich hinterher noch schriftlich für unseren Besuch.

Aber einmal, das muß ich noch erzählen, in einer schönen Sommernacht spät abends fiel die ganze Vagantenschar von einem Besuch des Unstruttals zurückkommend, mittels eines Lastautos in die Gästeschar des Hotels »Zum mutigen Ritter« in Bad Kösen ein. Paarweise hüpfend zogen wir unter dem Gesang »Freut euch des Lebens« in den mit Badegästen vollbesetzten großen Garten des Hotels. Es war uns tagsüber sehr gut gegangen und auch die Autofahrt war völlig gratis, wie es sich gehörte. Damit wir länger noch in der kleinen Stadt Freyburg dablieben, hatte sie uns ein Zuschauer unseres Spiels nicht nur zur Rückfahrt nach Jena gestiftet, nein, er fuhr das Lastauto, nachdem er die darauf befindlichen Ziegel hatte abladen lassen, sogar selbst. Anscheinend hatte es ihm irgendeine unserer Bacchantinnen angetan; es war ein junger belgischer Ingenieur. Die Gäste des Mutigen Ritters waren meist Berliner. Nein, so etwas hatten sie doch noch nicht erlebt und sie fragten mich heimlich, wer wir denn eigentlich wären. »Wir sind aus unserer lieben Universitätsstadt Jena und nehmen, was wir kriegen,« war meine Antwort – »wir sind Bacchanten.« Bald schlemmten wir im[43] Überfluß. Der eine Gast bestellte eine Runde Bier, der andere belegte Brote, soviel wir haben wollten. Auch große Tabletts mit gefüllten Kaffeetassen und Kuchenlettern tauchten auf. Das Geschäft ging vorzüglich. Die schönsten Mädel wurden dann noch extra herumgeschickt, um Geld sammeln zu gehen. Aber wohlgemerkt, wir verbrauchten nicht das Geld für uns, sondern es kam in eine gemeinsame Kasse für »Werbezwecke«. Um Mitternacht fuhren wir dann im Auto weiter nach Jena, die Tücher winkten beiderseits lange zum Abschied. Schon grollte in der Ferne der Donner. Wir hofften auf unser Gluck. Doch Kirschkuchen! Bald saßen wir auf der Landstraße mitten im schönsten Gewitter, es ging bergauf bergunter. Schon vor Kösen waren die beiden Laternen ausgegangen, sie versagten, und wir hatten uns eine kleine Radfahrlampe in Kösen verschafft, die unser einziges mehr wie unvollkommenes Licht in der Dunkelheit war. Erst wenn es blitzte, sahen wir die Beschaffenheit der Landstraße, die von Regenbächen überströmt war. An Einkehr war nicht zu denken, erstens waren wir alle durchgeregnet bis auf die Haut, und zweitens waren auch die Wirtshäuser, an denen wir vorbeifuhren, alle bereits geschlossen. Eigentlich war es bei der schlüpfrigen Straße eine Fahrt auf Leben und Tod, aber das ward uns erst hinterher klar. Endlich kamen wir nach Dornburg, es war Gott sei Dank nur noch eine halbe Stunde Fahrt bis Jena. Aber der Gasthof war noch offen, die Mädels wurden gleich in Betten gepackt und am anderen Tage Wäsche und Kleider herausgeschickt. »Sie sehen aus wie Luther«, sagte einer der Bauern zu mir, als ich auf einen Augenblick ins Wirtshauszimmer ging. Denn wir alle gingen in mittelalterlichem Bareit und trugen farbige Schauben. Als aber der Rest bei Morgengrauen in Jena einfuhr, wurden wir von den Jenensern durchaus nicht so freundlich empfangen, wie wir es doch verdient hätten. Wir fielen sofort der heiligen Hermandad auf, schon stand sie beim Absteigen am Wagen und konstatierte, daß er keine Nummer trug. Eine Strafverfügung an den unglücklichen Besitzer des Autos, der mit eiserner Gemütsruhe uns durch alle[44] Gefahren geführt hatte und darum nur ihre Anerkennung verdient hätte, war der Ausgang dieser Vagantenfahrt.

Ich bin hier beinah etwas zu ausführlich ins Erzählen gekommen. Was haben die Vagantenfahrten mit dem Buchhandel zu tun? Nun, es hatten diese und ähnliche Erlebnisse sehr viel Zusammenhang mit meiner inneren Entwicklung. In dem Jahrzehnt der vierzig holte ich das unbefangene Jugenderleben nach, das mir mein Lebensschicksal in den zwanziger Jahren nicht vergönnt hatte.

So ergab es sich von selbst, daß der »Serakreis« zum großen Jugendfest auf dem Hohen Meißner 1913 als einer der Veranstalter mit einlud. Es fiel mir dabei u.a. die Aufgabe zu, die Pressevertreter zu bemuttern. Auf dem großen Werkbundfest 1914 aber, das auf einer Wiese unterhalb der Rudelsburg bei Bad Kösen stattfand, war »Sera« zusammen mit der Weimarer Kunstschule der abenteuerliche Mittelpunkt des Festes. Seine Leitung unter Beihilfe von mehreren Kanonen, einem berittenen Artilleriekommando aus Naumburg, etwa hundert Landsknechten und Marketenderinnen, ebensovielen Vaganten aus Jena und Leipzig, Clotilde van Derp als Tänzerin, des Leipziger Gewandhausquartetts und eine Schauspielergruppe lag in meiner Hand. Es gab eine sorgenvolle Zeit der Vorbereitung. Noch tags vorher goß es in Strömen. »Was wollen wir tun, wenn es morgen auch noch regnet«, fragte Freund Peschel, der künstlerische Leiter von Goethes »Fischerin« und Oberkommandant von zwanzig Fischerkähnen. »Ja, ich weiß keinen anderen Rat, als daß wir dann ein Familienbad in der Saale aufmachen«, war meine Antwort. Und siehe, am anderen Tage war das schönste Wetter. Abends fuhren die Gäste unter bengalischer Beleuchtung von der Rudelsburg und Burg Saaleck auf Flößen nach Kösen. Auf ihnen spielte in warmer Sommernacht das Gewandhausquartett.

Aber auch der buchhändlerischen Jugend war ich nicht fern. Pfingsten 1914 forderte mich der Jungbuchhandel auf, auf der Bugra über »den Buchhändlerberuf und die Fragen der modernen[45] Kulturentwicklung« zu ihm zu sprechen. Und auch später in den Zeiten der Revolution wurde ich wieder vom Leipziger Jungbuchhandel eingeladen, einen die Kluft zwischen Angestellten und Chefs mildernden Vortrag im Buchhändlerhaus zu halten.

Aber ich ging in diesen Zeiten in meiner privaten Existenz nicht allein in der Jugendbewegung auf. Als Verleger hat man zu allerlei Kongressen und Veranstaltungen zu fahren. So hatte ich auch allerhand Landerziehungsheime zu betreuen, d.h. man fuhr nicht bloß einmal hin, sondern erlebte in persönlichem Verkehr mit den Leitern deren innere Entwicklung. Wie war doch lange Zeit bis zur Revolution der Name Wyneken kampfumtobt. Auch einige skandinavische Volkshochschulheime besuchte ich auf meinen Reisen. Schon 1902 war ich als Ehrengast zur Eröffnung der Darmstädter Künstlerkolonie geladen, da ich die Holzamerschen Festspiele für die Eröffnung verlegt hatte. Im Herbst 1907 lud ich mit elf Industriefirmen zusammen als zwölfter zur Gründung des Werkbundes nach München ein. Dalcroze trat mit seinen Bestrebungen in Hellerau in meinen Verlagskreis ein. Ich brachte die Jahrbücher dieser Bewegung und fuhr natürlich auch zu mancherlei Festspielen und Übungsstunden nach der neugegründeten Gartenstadt, deren allmähliche künstlerische Ausgestaltung ich mit großer Anteilnahme verfolgte. Man fühlte sich dem Bund der heimlich Verschworenen zugehörig-zumal bei den ersten noch etwas intimen Werkbundtagungen (später gewannen die Geschäftsleute die Überhand) – der schon damals ein anderes Deutschland als das der bequemen Phrase wollte, nämlich das Deutschland der Tat, das Deutschland, das nach vom Geist getragener Formung strebt. Später in und nach dem Kriege nahm dann die weitere Entwicklung der Körperkulturbewegung und das Volkshochschulwesen stark mein inneres Interesse in Anspruch. Beinahe alle bedeutenden deutschen Tänzerinnen der Gegenwart lud ich nach Jena zum Auftreten. Der Kunstverein besitzt ein Bild von Amiet, das aus ehrlich, als Veranstalter, verdientem Tanzgeld gekauft wurde; noch 1924 verdiente Edith von[46] Schrenck für das abgebrannte Volkshochschulheim in Dreißigacker durch ein einziges Auftreten 600 Mark. Ein großer Betrag von mehreren tausend Mark, der mit Hilfe der Schwedenkurse unter mehrmaliger Mitwirkung der Bodeschule für die Jugendbewegung angesammelt wurde, ging leider durch die Inflation verloren. Natürlich betrachtete ich auch die Abhaltung von mancherlei Vorträgen meiner Autoren in Jena über bestimmte künstlerische und wissenschaftliche Themen als meine Aufgabe.

Es wäre nun wohl auch Zeit, von der Hauptsache, nämlich von der Entwicklung des Verlags in diesen zehn Jahren seines eigentlichen Aufbaus zu sprechen. Von spekulativen Neudrucken älterer, honorarfreier Werke habe ich mich stets zurückgehalten, ich brachte aus vergangener Zeit nur heraus, was bestimmten, neu auftretenden geistigen Strömungen als Rückhalt dienen sollte. Übrigens singen meine Bücher erst vom Jahre 1906 an, zugleich mit einer stark einsetzenden Tätigkeit des Verlags Georg Müller und der Insel in Neuausgaben älterer Werke, in größerem Maße gekauft zu werden. Das Jahr 1906 ist überhaupt ein Wendepunkt im Buchabsatz gewesen. Es war, als wenn Deutschland auf einmal reich geworden sei, die sprichwörtliche Knauserigkeit im Bücherkaufen hörte auf. Einerseits hob sich nach zehnjähriger Pioniertätigkeit einiger Weniger mit einemmal das Niveau der allgemeinen Ausstattung, der Begriff vom »schönen Buch« entstand und lockte zum Sammeln. Es begannen nun aber auch viele wesentliche Bücher, nicht bloß aus dem Gebiet der schönen Literatur, in einer Reihe deutscher Verlage zu erscheinen.

Die sozialen und künstlerischen Anschauungen vertieften sich, schon fand die Mystik Boden. Der rationale Glaube an eine stetige Höherentwicklung der Menschheit fing an mit dem Eindringen der Philosophie Bergsons in Deutschland in eine irrationale Auffassung hinüberzugleiten, und man sprach nunmehr von schöpferischer Entwicklung, vorher aber war »Monismus« das Losungswort. Ein von der Erdkraft ausgehendes Denken und ein verstärktes Interesse[47] für okkulte Probleme waren die Parole. Schon um die Jahrhundertwende war an Stelle des bis dahin zugkräftigen Schlagwortes »Weltanschauung« das Wort »Kultur« getreten. In der liberalen Theologie begann die Konzentration des religiösen Denkens auf die menschlich vorbildliche Persönlichkeit zu wanken. Albert Kalthoff und Arthur Drews liefen gegen den Historizismus in dem Protestantismus Sturm. Hegelsche Ideenwelten wurden wieder wach, auch Schelling gewann wieder Boden (Joel, Seele und Welt). Dilthey stand auf der Höhe seines Einflusses, man glaubte, ein Neuhumanismus, der sich auf wirkliches Ins-Volk-Dringen unserer Klassiker aufbauen würde, würde herauskommen. Ja, der Name Fichte diente in Wickersdorf und anderen modernen Schulheimen direkt als Programm. Auch das Bild des Dichterfürsten Goethe begann sich bereits mehr in das Menschliche umzuwandeln. Kurz, es lag wie eine Vorfrühlingsstimmung über Deutschland und etwa 1910 brach die Wiedererweckung des deutschen Volksliedes durch den Wandervogel durch. Ich weiß noch ganz genau, wie schwer ich es zu Anfang hatte, meinen studentischen Serakreis, der sich zuerst aus der freistudentischen Bewegung entwickelte, die um 1908 an der Jenaer Universität aufkam, zum Singen von Volksliedern zu bewegen; mit einemmal war im neuen Semester alle Bereitschaft dazu da, und das Gedichtevorlesen trat in der Geselligkeit zurück.

Gewiß sind später auch bei Beginn der Revolution manch äußere Hemmungen, die von verkalkter Tradition ausgingen, beseitigt worden, das Schöpferisch-Fruchtbare, das herauf zu kommen schien, war aber nichts anderes als der Widerschein des vergangenen Vorfrühlings vor dem Kriege. Um diesen Widerschein aber gab es reichlich Geschrei zumal von jenen, die früher von dem Neuen in der Zeit nichts gemerkt hatten, denn neue geistige Bewegungen sind nie Massenbewegungen.

Zu den neuen Bewegungen vor dem Kriege gehörte aber auch schon die Besinnung auf das Wesen unseres Volkstums und die[48] Sehnsucht nach Gemeinschaft gegenüber dem nur das eigene Selbst genießenden Subjektivismus.

Aber auch der Snobismus und eine gewisse Großstadtdekadenz blühte gleichzeitig. Auch auf dem Gebiete des Buchwesens. Der Stand der Bibliophilen und Sammler wuchs, es begann eine schwungvolle Produktion von Büchern, die man des Namens und des äußeren Aussehens wegen haben mußte, sonst galt man in gewissen Kreisen nicht als voll. Die Söhne von reichen Eltern waren schon ein Stand geworden. Ihren Höhepunkt nach dieser Seite hin erreichte die »Bibliophilie« in den Inflationszeiten.

Die große Dresdner Kunstgewerbliche Ausstellung 1906, die Parade der deutschen kunstgewerblichen Entwicklung des neuen Stils, hatte mir den nur in sechzehn Fällen verteilten ersten Preis der Ehrenurkunde gebracht. Mit der Weltausstellung in Brüssel 1910, auf der ich als höchste Auszeichnung im Buchhandel den Grand prix erhielt, war eigentlich meine mir selbst gestellte Aufgabe in der Buchausstattung, die ich in den letzten vorhergehenden Jahren fast nur F.H. Ehmcke anvertraut hatte, erfüllt. Sein Faust 1910 war gewissermaßen der Abschluß. Es war nicht meine Aufgabe, für Bibliophilen besonders zurechtgemachte Bücher zu bringen, mir kam es zuallererst auf jene Wirkung an, die vom Inhalt ausgeht. Ein Buch zum Anfassen, Streicheln, Beriechen (Leder) und Begucken ist ein unnützes Ding. Als Höhenleistung erschien dann 1912 die Monumentalausgabe der Upanishads, von der ich behaupten möchte, sie hält den Vergleich mit den Inkunabeln des fünfzehnten Jahrhunderts aus. Es folgte dann noch in Ausstattung von E.R. Weiß 1913 eine Monumentalausgabe des Hamlet und 1917 in der künstlerischen Druckanordnung von R. Benz die zweibändige Legenda aurea.

Vielleicht gibt den besten Überblick über meine Arbeit in diesem Jahrzehnt wieder die Charakterisierung gewisser Verlagsgruppen zur Zeit der Bugra. Ich begann jetzt eine ganze Reihe Serienveröffentlichungen, die zum Teil heute noch nicht an ihr Ende gelangt[49] sind, weil sie durch Krieg und Inflation samt ihren Auswirkungen lange Zeit gehemmt wurden. Einige Gruppen meiner damaligen Verlagsumspannung habe ich unter den veränderten Verhältnissen nach dem Kriege wieder zurückstellen müssen, wie meine politische Bibliothek, die Schriften zur Soziologie, die naturwissenschaftlichen Klassiker u.a.

Die Einstellung auf das Denken unserer Klassiker, zumal in der Buchreihe »Erzieher zu deutscher Bildung«, trat in der Verlagstätigkeit bald zurück, ich mußte sie wegen Versagens des Publikums vorzeitig mit neun Bänden, deren letzter »Schelling, Schöpferisches Handeln« war, schließen. Dafür trat der Name Paul Lagarde fast als Symbol des Kommenden an die Spitze meiner Bücher zur Volkstumsbewegung. Sein Spruch von dem heimlich offenen Bund befindet sich seitdem am Kopf meiner geschäftlichen Briefbogen. 1913 erschien zuerst die Auswahl: »Deutscher Glaube / Deutsches Vaterland, / Deutsche Bildung« als Quintessenz seiner Schriften im Verlag. Sie liegt 1927 im dreißigsten Tausend vor. 1912 begann zum hundertjährigen Gedenktag der Ausgabe der Grimmschen Märchen die ohne Vorbild oder Nachahmung bei den anderen europäischen Völkern dastehende Reihe »Märchen der Weltliteratur«, die 1927 auf dreiunddreißig Bände angewachsen ist, einschließlich der neunbändigen Unterabteilung »Deutscher Märchenschatz«, der dem deutschen Volke seine Märchen dank Wisser und Zaunert durch neue Funde nahezu um das Doppelte vermehrt hat. 1912 begann auch mit »Thule« die endliche Darbietung der nordischen Sagawelt zu erscheinen (Island und Norwegen), die 1927 mit vierundzwanzig Bänden dem Abschluß nahe ist. Die Edda in Übersetzung von Genzmer und mit Einleitung von Andreas Heusler wurde nahezu ein Volksbuch, sie liegt heute bereits im dreiundzwanzigsten Tausend vor. 1911 begann ferner Richard Benz eine Neuausgabeder »Deutschen Volksbücher« in ihrerursprünglichen Sprachbildhaftigkeit und ihrem Sprachrhythmus. Das war etwas notwendig Anderes als die Neudrucke nach Simrock oder Schwab,[50] denn eine neue Zeit braucht auch Neugestaltung ihres literarischen Erbgutes.

Diesen halb wissenschaftlichen, halb künstlerischen Ausgaben deutschen Volkstums traten auch verwandte Erscheinungen der schönen Literatur zur Seite. Erst durch die erstmalige Ausgabe von »Tyll Ulenspiegel« in der heute noch unübertroffenen Übersetzung von Oppeln-Bronikowski wurde Charles de Coster ebenso für die Weltliteratur entdeckt (1927 im dreiundsechzigsten Tausend erschienen), wie W.S. Reymont mit dem 1912 erschienenen vierbändigen Roman »Polnische Bauern«, den im ersten Jahr des Erscheinens niemand kaufen wollte, bis ich dann eine öffentliche Beschwerde an das Publikum richtete. 1925 erhielt Reymont nur für diesen Roman den Nobelpreis. 1911 erschien auch bereits von Hermann Löns »Der Wehrwolf«. Überblicke ich dessen Absatzzahlen vom ersten Jahre bis zum Weltkrieg und sehe dann das gewaltige Anschwellen des Absatzes seit seinem Tode 1914, das unmittelbar mit ihm einsetzte (1927 ist der Absatz bis 300000 gediehen, in annähernd gleicher Absatzhöhe steht auch sein Roman das zweite Gesicht), so erkennt man: Bei diesem Buche war für den Absatz nicht das Erkennen seines Wertes allein entscheidend, sondern das immanente Bedürfnis des deutschen Volkes, sozusagen einen Theodor Körner des Weltkrieges zu besitzen. Er ist der einzige Dichter in der Volksphantasie geblieben, der als solcher für das Vaterland starb, und sein Wehrwolf ist zum Symbol für unseren Glauben an eine deutsche Zukunft trotz unserer Niederlage geworden.

Die religiöse Bewegung innerhalb des Verlages, auf den Leibbinden meiner Verlagswerke, zuerst als religiöse Kultur bezeichnet und dann später, als das Wort »Kultur« anrüchig geworden war, formuliert als »Lebensgestaltung durch Glauben«, hatte bereits in Leipzig 1902 mit einem gewissermaßen als Programm dienenden Buche: »Religion als Schöpfung« von Arthur Bonus eingesetzt. Aber erst in dem Jenaer Jahrzehnt gelangte sie zur Ausgestaltung. 1905 gab der Bremer Pfarrer Albert Kalthoff seine »Zarathustra-Predigten«[51] heraus, die er in der Kirche gehalten hatte. An diese und die folgenden Bücher knüpfte sich eine Bewegung, die Gott aus der Gegenwärtigkeit des Lebens und nicht aus der Historie heraus erfassen wollte. Die Gruppe der amerikanischen Religiösen Emerson, Thoreau, Whitman wurde von mir bewußt der Bewegung zugesellt. Kalthoff war auch der erste, der gegenüber dem historischen Christus ein Fragezeichen setzte und mehr den Mythos betonte. Aber erst Arthur Drews begann den entscheidenden Angriff gegen die liberale Theologie mit seiner »Christusmythe« 1909, die ein gewaltiges Aufsehen erregte und zu großen öffentlichen Religionsdebatten in Berlin führte. Denn hier geschah der entscheidende Einbruch in die protestantische Theologie, deren Zurückführung religiösen Denkens auf den historischen vorbildlichen Menschen Jesu dadurch der Boden entzogen wurde. Es war damals eine interessante religiös bewegte Zeit. Wie das Anzeichen einer kommenden religiösen Erneuerung leuchtete der Reformkatholizismus meteorhaft auf, indem er innerhalb des Katholizismus wieder die persönlich gelebte Religion betonte. Aber schon nach einem Jahre sank die Bewegung in sich zusammen, die Kirche erwies sich als zu fest gefügt. Der Verlag brachte die Hauptschriften des Auslandes, das Programm der italienischen Modernisten, die Antwort der französischen Katholiken an den Papst, Bücher von Guiseppe Prezzolini, Romolo Murri und George Tyrell. Heute ist die Bewegung im allgemeinen Bewußtsein des Volkes so gut wie versunken. Wer erinnert sich noch des Würzburger Professors Schell? Die etwa zweihundert modernistischen Pfarrer in Deutschland mußten ihr Amt niederlegen, gar mancher derselben wandte sich an mich um Rat, was er nun für eine Existenz ergreifen sollte. Die deutschen Führer der Bewegung sind aber heute meist wieder gute Söhne ihrer Kirche.

Ich zog aber auch noch Hilfskräfte zur religiösen Bewegung aus England herbei in R.J. Campbell und Edward Carpenter. Aus der Schweiz ließ Hermann Kutter seine religiös-sozialen Schriften bei[52] mir erscheinen. Um Drews gruppierte sich dann eine ganze Phalanx ausländischer Gesinnungsgenossen, der Amerikaner W.B. Smith, der Holländer van Eysinga, der Engländer J.M. Robertson. In Deutschland traten ihm Friedrich Steudel, Samuel Lublinski, Ernst Krieck zur Seite. Daneben ging die von Ernst Haeckel ausgehende monistische Bewegung. Arthur Drews setzte ihr aber als Philosoph durch einen zweibändigen Sammelband den vergeistigten Monismus gegenüber. Die modernistische Seite des Protestantismus vertrat seit 1913 der Kölner Pfarrer Karl Jatho, der mit Gottfried Traub das Schicksal teilen sollte, aus der protestantischen Kirche ausgeschlossen zu werden. Er starb aber kurz vorher.

Die innere Verbindung des Christentums mit dem nordisch-germanischen Denken hielt damals Arthur Bonus mit den heute noch keineswegs veralteten vier Bänden »Zur religiösen Krisis« aufrecht und auch die Linie zum religiösen Fichte. Von Bonus her stieß dann Friedrich Gogarten noch kurz vor dem Kriege mit seiner Schrift »Fichte als religiöser Denker« zum Verlag. Später hat er dann eine andere Entwicklung genommen, die in enger Verbindung mit Kierkegaard steht. Auch die Gesammelten Werke Kierkegaards wurden 1911 in Angriff genommen, nachdem der Verlag bereits 1905 eine Auswahl aus seinen Tagebüchern gebracht hatte, und eine zwölfbändige Ausgabe wurde bis Ausbruch des Krieges durchgeführt. Auch Max Maurenbrecher gehörte damals in die religiöse Phalanx des Verlages mit seiner Schrift über »Das Leid«. Wenn ich noch darauf hinweise, daß ich bereits 1910 durch Richard Wilhelm in Tsingtau ein großes Unternehmen »Religion und Philosophie Chinas« begann, so daß bis zum Kriege Kungfutse, Laotse, Liä Dsi und Dschuang Dsi herauskamen, ebenso daß 1912 »Die religiösen Stimmen der Völker« unter Herausgabe von Professor W. Otto in Angriff genommen wurden und mit der Bhagavadgita einsetzten, so wird man erkennen, daß der Hauptakzent des jetzigen Verlagsabschnittes auf dem Religiösen lag, während er vorher auf der künstlerischen Kultur gelegen hatte. Auch die Ausgaben aus der[53] Mystik wurden in diesem Jahrzehnt gefördert und vorläufig zu Ende gebracht.

Die Führung der künstlerischen Bewegung erstreckte sich in diesem Jahrzehnt hauptsächlich auf die Vertretung des Werkbundes, denn es war nun genug geredet und geschrieben worden und die Zeit des Tuns war gekommen. Die Jahrbücher des Werkbundes, dem ich die Durchführung dieser Idee auch in ihrer Gestaltung nahegelegt hatte, waren ungemein billige Bände zu 3.-Mark mit zahlreichen Abbildungen der Neubauten und des Kunstgewerbes.

Eine gewisse Parallele zur Werkbundbewegung ist die Gartenstadtbewegung. Schon 1907 brachte der Verlag das grundlegende Buch der englischen Gartenstadtbewegung von Ebenezer Howard heraus, der dann die deutsche Bewegung folgte. Gartenfachleute, wie Leberecht Migge, Fritz Encke brachten dann Bücher über die Gestaltung des Gartens, und 1913 erschien das umfangreiche Standard-Werk über die »Geschichte der Gartenkunst« von Marie Luise Gothein und erschloß uns wissenschaftlich die künstlerisch-kulturelle Gartenvergangenheit durch einen anschaulichen Text, verbunden mit zahlreichen Illustrationen. In gewisser ähnlicher Verwandtschaft als Buchtypus steht das gleichzeitig erschienene Buch von Maxmilian Ahrem: »Das Weib in der antiken Kunst«. Die kunsthistorischen Bücher von Hippolyte Taine und Stendhal, den beiden Lieblingen von Nietzsche, erschienen gleichfalls in musterhafter deutscher Übersetzung. Der Philosoph Herman Nohl verknüpfte Denken und Sehen durch seine »Weltanschauung in der Malerei«.

Ich nahm aber 1912 auch noch eine neue Aufgabe in die Hand, die Popularisierung der alten Kunst in Bildern, in der Art, daß an Stelle ausführlicher Kunstdefinitionen die Anschauung trat, daß die Entwicklungsperioden der europäischen Kunst bei den verschiedenen Völkern systematisch gruppiert wurden und ein wissenschaftlich einwandfreier und zugleich künstlerisch geformter Text die Bilder begleitete. Das Unternehmen »Kunst in Bildern« brachte es auf sechs sehr wohlfeile Bände, blieb aber dann durch den Weltkrieg stecken.[54]

In gewisser Verwandtschaft stand zu ihm eine großangelegte Serie zur älteren italienischen Kultur, unter dem Titel »Das Zeitalter der Renaissance«. Sie begann-herausgegeben von Marie Herzfeld-1910 mit dem ersten Band Matarazzo, Chronik von Perugia und war 1914 bereits auf neun Bände gediehen, der letzte war »Drei italienische Lustspiele aus der Renaissance«, herausgegeben von Paul Heyse.

Auch manch wichtige Gestalt aus der italienischen Renaissance erfuhr noch durch besondere Publikationen eingehende Berücksichtigung, Leonardo, Michelagniolo, Machiavell, Pico della Mirandola, Cardano und die Gestalten der Condottieri.

Auch die philosophische Bewegung jener Zeit fand durch den Verlag ihre Vertretung, weniger der damals in hoher Blüte stehende Neu-Kantianismus, als jene Richtung des philosophischen Denkens auf das Leben hin, die die Verlagsanzeigen als »Lebensgestaltung durch Denken« formulierten. Über Nietzsche erschien ein großes biographisches Werk von Carl Albrecht Bernoulli, das dessen Stellung zu Overbeck klarlegte und ein starkes Mißfallen des Nietzsche-Archivs hervorrief, welches sich in Prozessen austobte. 1907 veröffentlichte der französische Philosoph Boutroux als erstes Werk »Über den Begriff des Naturgesetzes in der Wissenschaft und in der Philosophie der Gegenwart«, weitere folgten nach. 1908 erschien von Henri Bergson »Materie und Gedächtnis«. Es erschienen dann bis zum Kriege alle wichtigen Schriften von Bergson in Übersetzung, der bekanntlich der Intuition wieder den ihr gebührenden Vorrang im philosophischen Denken erkämpfte und dadurch auch von großem Einfluß in Deutschland bei der Auseinandersetzung des Irrationalen mit dem herrschenden Kausalitätsdenken wurde. Die philosophischen Werke von Maeterlinck wurden weitergeführt. 1913 gesellte sich das große wichtige zweibändige Werk von Th.G. Masaryk über die russische Geschichts- und Religionsphilosophie dazu und 1914 eine beginnende Gesamtausgabe von dem russischen Philosophen Wladimir Solowjew. Von den deutschen Philosophen nenne[55] ich außer den dem Hartmannschen Denken nahestehenden Werken von Arthur Drews noch Hans Driesch, Carl Joel, Friedrich Paulsen (mit seiner Selbstbiographie) und die neue Auflage von Karl Christian Planck »Testament eines Deutschen«. Auch Graf Keyserling ließ 1913 ein Büchlein über die innere Beziehung zwischen den Kulturproblemen des Orients und Okzidents erscheinen. Eberhard Zschimmer brachte eine »Philosophie der Technik«. Ein ganz neues Gebiet des psychologischen Denkens, nämlich den Zusammenhang der Seelengestaltung mit den Lebenseindrücken, behandelten bereits in den Jahren 1906 und 1907 die dänischen Psychologen Ludwig Feilberg und Carl Lambeck. Heute ist ihre Richtung unter dem Schlagwort »Menschenkunde« das Allermodernste.

Aber auch die antike Philosophie wurde nicht vernachlässigt. Vor allen Dingen bedeuten die Aristoteles-Übersetzungen des Hegelianers Lasson die erste wirkliche Verdeutschung des Gegenspielers von Platon. Nestle gab in mustergültiger Auswahl die Vor-Sokratiker heraus. Die Hauptvertreter der Stoa erfuhren weiter in Neuausgaben ihre Fortsetzung.

Auf pädagogischem Gebiete ergab sich durch persönliche Beziehungen ein nahes Verhältnis zur Schulgemeinde Wickersdorf, das zur Herausgabe ihrer Jahresberichte und der Schriften Gustav Wynekens führte, dessen Name der umstrittenste nicht nur der Schulbewegung, sondern auch der Jugendbewegung wurde. Auch zur Jugendbewegung führten, wie schon erwähnt, viele persönlichen Beziehungen. Die Festschrift vom Hohen Meißner, die zuerst den Namen »Freideutsche Jugend« aufbrachte, erschien 1913 unter meiner starken persönlichen Mitwirkung an ihrer Gestaltung.

In enge Beziehung zu den neuen pädagogischen Fragen trat die sexuelle Frage, die innerhalb des Verlages mehr in den geistigen Beziehungen des Eros zum Leben zum Ausdruck kam. Die Hauptautorin war Rosa Mayreder, die wohl bis heute das Beste zu dieser Frage gesagt hat, was überhaupt zu sagen ist, aber trotzdem in der[56] großen Allgemeinheit noch wenig bekannt ist. Aber ihre Zeit wird kommen. Ich nenne nur noch Margarete Susman, Lenore Kühn und Gertrud Pre!lwitz, deren Büchlein »Vom Wunder des Lebens« heute bereits das 150. Tausend erreicht hat.

Ein wichtiger Vorstoß zum Leben hin war die Gründung der »Politischen Bibliothek« und der »Staatsbürgerlichen Flugschriften« im Jahre 1911. Als Herausgeber hatte ich für Deutschland den Sozialisten Eduard Bernstein und den rechtsstehenden Volkswirtschaftler Hans Dorn gewählt, denen dann als ausländischer dritter Herausgeber der schwedische Soziolog Gustaf F. Steffen zur Seite trat.

In einem an den Buchhandel und die Zeitungen gleichzeitig versandten Programm, betitelt »Der Einzelne und der Staat, Versuch zur Organisation eines persönlich-freien Denkens in politischen Dingen« heißt es eingangs:

»Alle Kultur der Einzelpersönlichkeit heischt eine Ergänzung und Weiterführung durch den Willen auf die Umwelt zu wirken, denn alles Wirken für das Allgemeine er!öst das Ich von seiner zufälligen Beschränkung. Ohne Zukunftswillen, ohne Idealismus des einzelnen erstarrt der Staat in der Ausübung seiner geschichtlich überlieferten Funktionen, denn er hat nicht allein nur für Einrichtungen zu sorgen, die die Interessengegensätze ausgleichen, er muß auch die Grundlagen, auf denen sich die geistig-sittliche Entwicklung aufbaut, weiter ausbilden. Eine Politik, die mit den Vernunftgesetzen der menschlichen Natur und mit ihrem ethischen Vervollkommnungsideal im Einklang steht, eine Politik, die auf den Kadavergehorsam des unselbständigen Menschen verzichtet, steigert den Optimismus und den Schaffenstrieb, der zur Liebe zum Vaterland nötig ist.

Überall drängen sich neue Ideen zur Verwirklichung. Die Fortschritte der Technik ermöglichen in immer größerem Maße die Beherrschung der Natur, und der Menschheit erwächst aus dem Glauben an den Entwicklungsgedanken das Pflichtgefühl, Organisationen[57] zu schaffen, um die Gestaltung des sozialen und kulturellen Lebens nicht mehr Zufälligkeiten anheimzustellen.

Darum soll ein buchhändlerisches Unternehmen von Jena, der Stadt Fichtes und Hegels, ausgehen, dessen Grundgedanken positive Arbeit für den Staatsgedanken sein will. Es soll keiner einzelnen politischen Partei dienen, es sollen auch nicht Gesinnungen gepredigt werden, aber aus der Gesinnung heraus soll geschrieben werden. Demokratie und Aristokratie sind keine unvereinbaren Gegensätze, sondern ergänzen sich. Der einzelne erliegt nicht dem Milieu oder der Masse, sondern er wirkt auf sie. Das Wort ›Sozialdemokrat‹ darf ebensowenig ein Popanz für unmündiges Denken sein, als das Wort ›national‹ ein nichtssagendes Aushängeschild. Nationale Gesinnung muß die Verpflichtung in sich spüren, unser Können und unsere geistige Verfassung für eine Menschheitskultur zu steigern. Wir müssen den neuen Kulturaufgaben der modernen Großunternehmungen nachgehen und dürfen uns auch nicht scheuen, neue wirtschaftliche Gesellschaftsformen zu suchen, sobald sie die organische Entwicklung notwendig macht. Schule und Volksbildungswesen, Kirche, Rechtspflege suchen nach neuer Gestaltung, die Aufgaben der Stadtgemeinden erweitern sich, überall entstehen neue Probleme und harren der Lösung.

Zur Durchführung des Programms, das Verhältnis des einzelnen zum Staat fruchtbar zu gestalten, bedarf es der Mitarbeit von Persönlichkeiten, und zwar solcher, die nicht mit einer Fülle weit hergeholter Begründungen einherkommen, sondern die mehr oder weniger pragmatistisch von vorhandenen Lebensformen ausgehen und die aus dem Erlebnis heraus etwas eigen Gewachsenes zu sagen haben. Es bedarf aber auch eines Zuhörerkreises, der sich nicht mit politischen Phrasen abspeisen läßt, sondern der lernen will und dann handeln. Nichts Schlimmeres bei allen brennenden Fragen gibt es, als nur wohlwollend orientiert zu sein.«

Es waren die besten Namen der englischen Fabians darin vertreten: Mac Donald, Wallace, J.G. Wells und auch Lloyd George.[58] Von deutschen Autoren bis zu Ausbruch des Krieges: Heinz Potthoff, David Koigen, Franz Staudinger und Richard Calwer. Zur Seite standen dann Schriften über das Problem der Armut von Sidney und Beatrice Webbs und von Jaurès über das Entmilitarisierungsproblem (Die neue Armee). Von deutschen Denkern war Robert Wilbrandt mit einem gewichtigen Buch über den Sozialismus vertreten. Alfred Weber gab Schriften zur Soziologie der Kultur heraus, und Paul Göhre setzte die Reihe seiner Arbeiterbiographien fort, die ein unersetzliches Dokument für das Denken und die Lebensumstände der Arbeiter aus den Zeiten der Industrieentwicklung sind.

Wie eine Vorausahnung künftiger Zeiten schrieb Karl Lamprecht bei Erscheinen der »Politischen Bibliothek« an mich:

»Für mich als den Erfinder des Wortes von der ›Politisierung der Gesellschaft‹ ist natürlich die jüngste Wendung Ihrer geschäftlichen Tätigkeit eine mit höchster Freude zu begrüßende Selbstverständlichkeit. Und ich zweifle nicht, daß Sie auf diesem Wege ebensosehr unsere Entwicklung fördern wie auch die Interessen Ihres Verlages wahren werden. Darf ich dem noch einige Beobachtungen hinzufügen, so wären es folgende: Indem alles, was die letzten zwei Jahre heute an Idealismus und an vielleicht noch wenig umschriebenen sittlichen Zielen gezeitigt haben, dem Gedanken zweckmäßiger Durchbildung auf politischem Wege unterworfen und damit rationalisiert wird, besteht die Gefahr, daß diese reiche Fülle von Blüten und Früchten, namentlich in den Teilen, in denen die Ernte noch etwas unreif sein möchte, arg beschnitten wird und daß damit das, was wir heute stolzen Sinnes ›Kulturpolitik‹ nennen, wieder mutatis mutandis den dürren Abstraktionen des politischen Denkens der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zugeführt wird. Dieser Prozeß, der zu den bedauerlichsten Verengungen geschichtlicher Lebensbreite gerechnet werden müßte, hat sich in der Entwicklung der deutschen Geschichte mehr als einmal vollzogen, und die Gefahr ist keineswegs ausgeschlossen, daß dies[59] auch jetzt wieder geschehen werde; Bürokratismus, Militarismus und falsch verstandener fürstlicher Beruf können dafür sorgen. An dieser Stelle muß also, und ich weiß, daß ich damit, daß ich dies ausspreche, ganz Ihren Intentionen entspreche, scharf aufgepaßt werden, und es muß einer der wesentlichsten, immer wiederkehrenden Gedanken sein, daß die deutsche Politik der Zukunft nach innen wie außen nur eine Kultur- und nicht eine Gewaltpolitik sein kann

Auch nach der naturwissenschaftlichen Seite hin entwickelte sich der Verlag durch die Inangriffnahme der »Klassiker der Naturwissenschaft und Technik«, die 1913 mit Lamarck »Die Lehre vom Leben« begannen, dem Kepler und Plinius später folgte. Im allgemeinen waren die Aufgaben des Verlages nach der geisteswissenschaftlichen Seite hin zu umfangreich, als daß sich derselbe nach der naturwissenschaftlichen Seite hin hätte entsprechend ausdehnen können. Immerhin erschienen die Schriften von Wilhelm Bölsche mit großer Wirkung auf weite Kreise in ihm, und Wilhelm Fließ ließ 1909 sein epochemachendes Buch »Vom Leben und vom Tod«, das den Rhythmus im Naturleben entdeckte, im Verlag erscheinen.

Auf dem Gebiet der schönen Literatur sind zuerst sämtliche Werke Carl Spittelers zu nennen, dessen Schriften teilweise von anderen Verlagen, wo sie unabsetzbar schmorten, angekauft wurden. Hinzu kamen als Autoren Agnes Miegel, Alfons Paquet, Ernst Lissauer und Hermann Löns (Der kleine Rosengarten) in ihren Gedichten. Von anderen Völkern her in Romanen die Dänen Svend Fleuron, Karl Gjellerup, Henrik Pontoppidan, von England Fiona Macleod, die keltische Sagendichterin, die sich aber dann überraschenderweise nach ihrem Tode als nicht existierend entpuppte. Sie war nämlich ein Mann, der William Sharp hieß und zum Präraffaelitenkreis gehörte.

1909 gründete der Verlag zusammen mit fünf anderen Verlagen die Tempelklassiker.[60]

Nicht uninteressant ist es, die verschiedenen programmatischen Vorworte zu den Verlagskatalogen in jener Zeit zu verfolgen.

1906 heißt es in dem zehnjährigen Verlagsbericht:

»Daß es mir bisher möglich war, Bücher ohne Rücksicht auf die Tagesmode zu verlegen, gibt mir die starke Zuversicht, daß wir nach dem Tiefstand der deutschen Kultur in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer stetigen, aufsteigenden Entwicklung begriffen sind.«

In »Wege zu deutscher Kultur« steht 1908:

»Unsere Sache ist es, für die ethische Seele der Zukunft zu sorgen. Dies kann aber nicht durch sofortige, praktische Änderungen der Tageswirklichkeiten geschehen. Sondern die Stimmung, aus welcher dann von selbst die zukünftigen Wirklichkeiten sich bestimmen, wird sozusagen in einer Welt für sich zu schaffen und auszubilden sein.«

Der Bericht über die sechzehnjährige Verlagstätigkeit 1912 spricht sich ganz besonders umfangreich über meine Einstellung zur Zeit aus:

»Es ist fast ebensolange her, wie mein Verlag existiert« – heißt es dort – »daß in Deutschland die Geister erwachten, daß es wie eine rätselhafte Unruhe in die Menschen kam, sich nicht mehr mit dem Überkommenen zu begnügen, sich nicht mehr als Epigonen zu fühlen. Man wollte dem Menschen in sich selbst wieder näher kommen, und indem damit ein neues Selbstvertrauen entbunden wurde, überwand man Autoritätsglauben und Dekadenz. Technik und exakte Wissenschaften gingen in ihrer umstürzenden Tätigkeit voraus, fast über Nacht wurde Deutschland aus einem Ackerbaustaat zu einem Industriestaat.

Durch die Zeitungen und Zeitschriften wird eine Menge Wissensstoff in die Welt geworfen, aber dieser kommt bei den Lesern in seiner Wirkung zu keiner Kristallisation, denn es fehlt die Begrenzung auf das das Leben Schaffende. Es wird daher der neue Typus des Verlegers notwendig, der Mäzen ist. ›Mäzen‹ weniger als Geldmann[61] aufgefaßt, sondern mehr als Pfleger des Werdenden, als Organisator geistiger Kräfte und Strömungen.

Eine Vertiefung des deutschen Wesens kann aber nur kommen, wenn wir von dem Ideal des schöpferischen Menschen ausgehen. Wir Germanen wollen den Helden, den Qualitätsmenschen als letztes Ziel unserer Entwicklung. Darum müssen wir uns von der nationalen Phrase freimachen. Wir müssen unsere Kräfte rein und stark erhalten, um als Volk vorwärts zu kommen. Wissen wir zu unterscheiden, was für unsere eigene Entwicklung wesentlich ist und was unwesentlich, so sind die Vorbedingungen für die Gestaltung neuer Formen gegeben. Es ist ein ganz falsches Bildungsideal, was wir jetzt noch haben, das Bildungsideal des Vielwissers, erzogen durch die Examina unserer Schulen. Bildung haben aber heißt, seine inneren Kräfte ausgebildet haben, und das kann man nur durch Beschränkung auf seine Anlagen, durch Arbeit am Leben. Aber nur der ist literarisch gebildet, der weiß, daß er nicht alles kennen muß, sondern nur das sucht und zu finden versteht, was er braucht. Alles innere Leben erfordert, um einen Ausdruck Bergsons zu gebrauchen, den er mir im Gespräch als Formel seiner Philosophie bezeichnete, das eine: Simplifier la vie.

Wirken kann man aber als Verleger nur, wenn man Gegensätzliches als gleichberechtigt ansieht und als das Wesentliche nicht den Kampf zwischen beiden Richtungen, sondern ihre Synthese betrachtet. Wir haben auch nur dann das Recht, national zu sein, wenn wir die Eigenart anderer Völker verstehen und achten, denn darin besteht ja der Reichtum des Lebens, daß es eine Polyphonie ist, daß es kein einziges Mustervolk oder eine allein herrschende Idee gibt. Wir alle haben dem Leben zu dienen, das über uns herrscht.«

Ein Jahr später heißt es dann in dem Katalog »Die deutsche Kulturbewegung im Jahre 1913«:

»Eine einseitige, allzu große Beschäftigung mit sich selbst führt nicht nur im Leben des Individuums, sondern auch im Leben des[62] ganzen Volkes zur Verengung. Darum gilt mir als zweiter Hauptpunkt meiner verlegerischen Tätigkeit, uns Deutschen die Augen offen zu halten für die ergänzenden Eigenschaften anderer Völker und dadurch uns klarzumachen, daß wir uns vom Chauvinismus freizuhalten haben. Wir haben, nur andeutungsweise sei es gesagt, von den Engländern politischen Sinn, von den Franzosen Leichtigkeit und Lebensempfinden, von den Skandinaven die Volkserziehungspraxis, von den Slawen die notwendige Ergänzung zu unserem einseitigen religiösen Individualismus zu holen, und von Indien und China vielleicht den Sinn des Lebens, nämlich wahre geistige Kultur.

Jeder Einsichtige weiß, daß in Deutschland eine große, alle schöpferischen Kräfte erregende Bewegung vorhanden ist. Ich rede nicht von dem industriellen Aufschwung. Jene Bewegung ist erst ein Vorfrühling. Eine ganz geringe dünne Schicht lebt geistig vorwärtsschreitend und entwickelt in sich ein neues Verhältnis zum Leben, aber sie hat keinen Einfluß auf die Masse. Ganz im Gegenteil, die Menge wird immer kulturloser und versinkt in Geschmacklosigkeiten und äußerlicher Gesinnung. Es ist eine Täuschung, wenn wir uns einbilden, wir seien im steten Aufstieg, nein, wir zehren jetzt viel zu viel von altem Kulturgut und fügen zu wenig neues zu. Die Entwicklung äußerer Lebenshaltung bietet nicht den geringsten Maßstab. Soll Deutschland einst die Führung in der Welt übernehmen, so ist die entscheidende Frage: Wird die neue kommende Generation die Arbeit unserer heutigen ›Führer ohne Volk‹ aufnehmen und weiterbringen? Darum heißt es arbeiten, daß genügend Kräfte hinter der Fülle des neuen Wollens stehen, heißt es im Sinne Lagardes einen heimlich offenen Bund der Geister bilden, der für das Morgen sinnt.

Daß unsere wirtschaftliche Entwicklung einen neuen geistigen Überbau erfordert, einen Neuidealismus, ist Binsenwahrheit. Die Frage ist nur, wie bereitet man am besten den Boden dafür vor. Mit der Persönlichkeitsentwicklung ist es noch nicht getan, auch wenn sie die Grundvoraussetzung ist. All die gärenden Kräfte müssen[63] eine Form haben, und um diese zu finden, muß ein geschärftes Bewußtsein für das Gemeinsame, für die Art unserer inneren Anlagen in uns lebendig werden. Geht doch die Entwicklung des Verhältnisses des einzelnen zum Staat darauf hinaus, daß an Stelle überkommener Autoritäten ein durch das ganze Volk gehendes gemeinsames Empfinden treten will, das sich selbst verantwortlich fühlt. Eine Volkstumsbewegung muß uns zu einem bewußten Rassengefühl führen

Quelle:
Diederichs, Eugen: Aus meinem Leben. Jena 1938, S. 38-64.
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