Der ist vom Schicksal noch nicht ganz verlassen, dem ein Freund noch übrig bleibt.

[133] Bei meiner Entlassung hatte ich Kollegen. Es war Mad. Gensike, H. Dunst, H. Jüttner und noch einige. Auch Madame Gensike war schlechter geworden – hieß es. Die arme Frau! Wenn Sie wirklich nicht alles geleistet, was sie hätte leisten sollen, Wunder wär's nicht. Wenige von ihren alten Rollen (oder hat sie auch nicht gefallen in dem »Ton der großen Welt«?) spielte sie, und zu Hause einen Mann, dessen Tod man vor Augen sah, da spiele man nichts wie neue Rollen! Und doch wußte sie sie auswendig, und das war schon genug. – Herrn Großmann brachte es keinen Segen. Seine Frau hatte nach ihrer glücklichen Entbindung ein dreimonatiges Krankenlager. Endlich starb sie zwischen dem 28. und 29. März 1784 in der zwölften Stunde der Nacht.[133] Und 101/2 Stunden darauf, den 29. März, folgte ihr Herr Gensike in die Ewigkeit nach. Wenn sich die zwei Seelen noch begegnet haben sollten – doch, wir werden es ja einst erfahren, was sie sich einander gesagt.

Guter Gensike! Ich vertrat bei dir die Stelle eines Beichtvaters. Mir übergabst du deine Gattin, ihr beizustehen. Von mir verlangtest du zu wissen, wann wahrscheinlich deine letzte Stunde schlagen würde. Mich batest du, zu sorgen, daß dein Weib nicht vor dir weine. »Auch Sie müssen nicht weinen, wenn ich sterbe. Schmerzhaft würde mir dann die letzte Stunde sein. Ein Kranker wie ich, so nahe am Rande des Grabes, lügt nicht, spricht Wahrheit. Wissen Sie, wodurch ich soviel Zutrauen zu Ihnen bekommen? Weil ich Sie nie auf einer Unwahrheit ertappt. Nie haben Sie sich widersprochen. Wie oft lenkte ich die Gespräche herum. Aber nie fand ich Widerspruch. Immer blieben und waren Sie sich gleich. Ich habe nie eine Frau höher geschätzt wie Sie. Aber ich habe auch nur eine Kummerfeld kennen gelernt. Welcher Trost für mich, daß ich mein gutes, liebes Weib, das ihren letzten Rock für meine Wartung und Pflege hingeben würde, in Ihren Händen weiß, eine Kummerfeld, eine solche tätige Frau, ihre, meine Freundin ist. Gott lohne Sie! Wir können es leider nicht. Und Gott lohne Ihre Freunde, denen Sie meiner Frau Angelegenheiten nach meinem Tode anempfehlen wollen,« usw.

Dir, Gensike, gab ich im Namen meines Hinrich, meines Greilich die Hand, daß sie beide auf meine Bitte sorgen würden, daß deine Gattin den Rest deines noch übrigen Vermögens erhalten sollte. Oh, und sie, die Guten, waren auf meine Bitten der Witwe Gensike, die sie nicht kannten, das, was sie der Witwe Kummerfeld waren. O Dank, Dank euch, daß ich dem Sterbenden nicht zur Lügnerin ward!

Von mir erfuhr Gensike, daß wahrscheinlich keine Hoffnung zu seinem Aufkommen wäre. Ich betete ihm vor und mit ihm. – »Bleibe ich auch die Nächte in Ihrem Hause, dann, Freund, glauben Sie, daß jede Stunde Ihre letzte sein kann.« Nur er, nur ich, nur wir verstanden uns. Seine[134] Gattin war in dem Wahne, er stürbe nicht gern. Es war natürlich; denn noch zählte Gensike keine 24 Jahre und stand noch unter Vormundschaft. Jeder Mensch würde ihn für zehn Jahre älter gehalten haben. Wenn ihn die Todesangst ergriff und ich ihm zusprach, er sich erholte von einem heftigen Anfall und dann sagte: »Dank, Kummerfeld! Dank! Das sind Trostworte! O mehr, mehr so! Ich höre, ich verstehe alles, wenn ich gleich nicht mitbeten kann.« – Von meiner Hand erhielt der Sterbende die letzte Labung, sein brechendes Auge, der letzte Druck seiner Hand dankte mir.

O Menschen, wüßtet ihr alle, welch ein Gefühl das ist, Mensch, Christ zu sein! Nie hatte ich vorher Gensikes gekannt, mich zog zu ihnen nicht Eigennutz. Sie verfolgt zu sehen, ihr Leiden, ihr Unglück warf mich ihnen in die Arme. Zu glücklichen, reichen Menschen drängt sich die Kummerfeld nie.

Sie verabscheut die Freßfreunde, und sie weiß, wie wohl es einem gepreßten Herzen tut, sich an ein redliches, teilnehmendes Herz anlehnen zu können.

Herr Großmann sollte noch mehr Unglück haben; denn den 15. April starb der Kurfürst, und nun hatte seine ganze Bonnische Glückseligkeit ein Ende. Ich wünsche ihm seiner vielen Kinder wegen nichts Böses, sondern nur, daß er vor seinem Ende möge in sich gehen.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 133-135.
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