Einsamkeit

[114] Was ist wahre Einsamkeit?

Sind wir einsam, wenn das Leben

Rings von Stille ist umgeben?

Wenn die rege Fantasie

Uns in schaffender Magie

Neu beseelt mit süssem Streben

Bilder der Vergangenheit? –

Ist das wahre Einsamkeit?


Oder wenn in stillen Gründen,

In des Waldes heil'ger Nacht,

Sonnenglanz in reiner Pracht

Durch die leis' bewegten Wipfel,

Durch die glanzumsäumten Gipfel

Nur verstohlen blickend, lacht,

Und in den verworrnen Zweigen

Selbst die kleinen Sänger schweigen?
[114]

Oder wenn in dunklen Mauern,

In des Kerkers engen Raum,

Der Gefangene sich kaum

Darf in seinen Ketten regen,

Wenn sein Herz mit raschen Schlägen

Nährt der Hoffnung Göttertraum,

Und getheilt in Freud' und Trauern,

Ahndungen ihn tief durchschauern? –


Nein, nur das ist Einsamkeit,

Wenn sich Wesen um uns drangen,

Denen nicht in zarten Klängen

Sich vernehmbar macht das Herz,

Oft voll Wonne, oft voll Schmerz –

Die uns das Gemüth verengen

Durch der Langeweile Leid – –

Das ist wahre Einsamkeit!
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Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Gedichte von Natalie. Berlin 1808, S. 114-116.
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