XIV

[118] Ich muß gestehen, ich wäre nicht so bereitwillig gewesen, zu verzeihen, sagte die Gräfin, und es scheint mir eine große Schwäche des Geistes und des Charakters anzudeuten, daß der gute Kaiser nach solchen Erfahrungen wie ein ganz gewöhnlicher Comödienvater sich benahm, und statt zu strafen vergab und vergaß. Ich hätte an seiner Stelle den Herrn Grafen laufen lassen, die saubere Helena aber in ein Kloster gesteckt, um – nicht die Leidenschaft, der sie gefolgt war – wohl aber die Lieblosigkeit ihrer kindlichen Gesinnung gehörig zu büßen.[118]

Daß die gefühllose Tochter dies verdient hätte, bestreite ich nicht, unterbrach sie Erna, aber sollte, was Ihnen Armuth des Geistes dünkt, nicht eher ein Reichthum des Herzens gewesen seyn, der den Kaiser vielleicht unwillkührlich bewog, nicht als Richter, sondern nur als Vater zu handeln? Wie der Ocean den Tropfen verschlingt, daß keine Spur mehr sein kurzes Daseyn verräth, so tilgt die Liebe durch ihre unüberschwängliche Fülle ja auch die einzelnen Kränkungen und Beleidigungen aus, die uns von außen kamen, denn die Liebe überwindet alles, und vergiebt alles. –

Mit brennenden Blicken lauschte Alexander ihren Worten, die so tröstlich die dunkle Wolke seines Schicksals mit dem goldenen Saum der Hoffnung zu schmücken schienen. Erröthend bemerkte sie die hochgespannte Achtsamkeit, mit der er ihr zuhörte, und setzte, Misverständnissen vorbeugend, hinzu: die himmlische Liebe nämlich, die das eigentliche Leben ist, und die Nacheiferung dessen, der seine erwärmende Sonne Bösen und Guten scheinen läßt, und seinen erquickenden Regen über Gerechte und Ungerechte vertheilt, und die, weil sie nicht im Irrdischen, sondern in einer höheren Region ihr Wesen gründete, unsterblich ist, und unsterblich macht.

Sie wandte sich hierauf wieder zu den Gemälden, und die Lebendigkeit, mit der sie nach ächt[119] weiblicher Art sich in der Geschichte wenig um die Heldenthaten berühmter Männer, desto mehr aber um die kleinen individuellen Züge ihres Privatlebens und um die zeitgemäßen Eigenheiten ihrer Sitten bekümmert hatte, und die Genauigkeit, mit der ihr treues Gedächtnis sich ihrer erinnerte, charakterisirte ihr Geschlecht auf eine sehr anmuthige Weise, und nahm ihrem Wissen, das sie unbefangen und freudig aussprach, jeden pedantischen Anstrich gesuchter Gelehrsamkeit, da es nur als freundlicher Antheil an dem menschlich empfundenen Wohl oder Weh der längst in Staub Verwandelten erschien.

Es machte ihr Vergnügen, mit dem Gesandten, der die Geschichte als sein Lieblingsstudium trieb, ein kindlich neckendes Examen anzustellen, in welchem er oft nicht zu bestehen im Stande war, da sie begehrte, er solle in die größten Einzelnheiten eingedrungen seyn, und immer mehr den Menschen, als seinen öffentlichen Charakter im Auge behalten haben.

Er hingegen, der Würde des historischen Zwecks sich bewußt, und ihn auf höheres beziehend, als auf das eigentlich menschliche Leben, von dem schon Salomon behauptet, daß es nichts neues zu bieten habe, hatte ihn im Allgemeinen aufgefaßt, und weniger enge Gränzen der Uebersicht sich gezogen. Wohlgeordnet wußte er die[120] allmählich aus der Nacht hervortretenden Fortschritte der Bildung nach ihrer Zeitfolge sich vorüber zu führen, aber von dem eigentlich Häuslichen, Herzlichen der Vergangenheit, das für Erna die Hauptsache war, hatte er keine Notiz genommen.

Daher als sie jetzt vor Otto des Großen Bilde standen, wußte er zwar in der möglichst chronologischen Ordnung darzuthun, daß dieser seltene, wahrhaft große Mann im Jahr 937 in Aachen von Hildebert, Erzbischoff zu Mainz gekrönt worden sei, tapfer als Kriegsheld für Recht und deutsche Ehre gekämpft, ritterlich seine Feinde überwunden, stets einen frommen gottseligen Wandel geführt habe, und im Jahr 973 in Quedlinburg unter heiligen Betrachtungen der sieben letzten Sterbensworte des Erlösers sanft und selig verschieden sei, worauf man seinem entseelten Leichnam die Ruhestätte in Magdeburg angewiesen, das, durch die Durchzüge barbarischer Völker verwüstet, von ihm neu gegründet, und durch den ehrwürdigen Dom daselbst wahrhaft kaiserlich für alle Zeiten ausgestattet worden sei.

Als nun aber Erna ihn fragte, was der große Kaiser einst am Osterfeiertag in Pavia erfahren, und welche mächtigeren Feinde als ein Kriegsheer von außen, er rühmlich damals in seinem Innern bezwungen habe, wußte er ihr nicht Rede und Antwort zu geben.[121]

Triumphirend, ihn belehren zu können, trug sie daher im Chronikenton ihm die Begebenheit vor, die sich da ereignete, und lächelte gutmüthig über sich selbst, indem sie, wie sie sagte, vor einem so gründlich unterichteten Publicum als Lehrerin der Geschichte auftrat.

Als nämlich einst Otto das Osterfest in Pavia beging, wurde seine Tafel unter andern Speisen, auch mit einem Osterfladen besetzt, dessen köstlicher Duft einen jungen Herzog von Schwaben, der sich am kaiserlichen Hof aufhielt, zu lüsterner Begierde reitzte.

Ohne das genäschige Verlangen nach dem Genuß dieses Fladens mäßigen zu können, oder zu wollen, erdreistete er sich, ehe noch der Kaiser herein getreten war, ein Stück davon abzubrechen.

Ergrimmt wurde der Truchses diese Verletzung schuldiger Ehrfurcht gegen Kaiserliche Majestät in der frevelhaften Verunzierung seiner Tafel gewahr, und erhob seinen Stab, das knabenhafte Beginnen des jungen Herzogs zu züchtigen.

Aber unglückseliger Weise verwundete er ihn, und der Hofmeister desselben, Herr Heinrich von Kempten wurde durch das Blut seines Zöglings, das er fließen sah, so in Wuth versetzt, daß er den Truchses, diese Schmach zu rächen, auf der Stelle niederstieß.

Als nun der Kaiser in der Absicht, sein Mahl[122] zu halten, herein trat, und den treuen Diener ermordet zu seinen Füßen erblickte, entbrannte er in ungemessenem Zorn, und befahl, den Thäter augenblicklich hinzurichten.

Da warf sich der Hofmeister zu seinen Füßen, und flehte nur um ein kurzes Gehör, sich verantworten zu dürfen.

Aber Otto versagte es ihm in der Heftigkeit der Leidenschaft, und wiederholte den gegebenen Befehl, ihn sogleich, ohne Aufschub, zum Tode zu führen.

Da bemächtigte sich des Unglücklichen die Verzweiflung, die nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu fürchten hat. Außer sich fiel er den Kaiser an, der sich dieser Kühnheit nicht versah, schlug ihn zu Boden, raufte ihm den Bart aus, und würde ihn mit starker Faust erwürgt haben, wenn nicht die Umstehenden hinzugeeilt wären, und mit vieler Mühe ihn aus den Händen des Rasenden gerettet hätten.

Jetzt wollte man, empört über so unerhörte Frevelthat, ihn zum Tode schleppen, ohne einen neuen Befehl des athemlosen Kaisers dazu zu erwarten.

Aber siehe – er winkt mit der Hand – noch kann er nicht sprechen, doch sein gütiges Auge befiehlt Schonung – zerknirrscht von Schaam[123] und Reue steht der nun wieder zu sich selbst gekommene Verbrecher in der Ferne.

Da ruft ihn Otto zu sich, und spricht mit sanftem Ton: »ich bekenne, daß nicht Du, sondern Gott durch Deine Hand mich gezüchtiget und geschlagen, dieweil ich das Obrigkeitliche Amt in Anhörung der Sach durch Zorns Verleitung hab unterlassen. Weil ich nun meines Amts vergessen, so hat mich Gott an diesem Tag des Herrn durch Deine Züchtigung mit gebührendem Schmerz erinnern lassen, wie ich mich hinführo in dergleichen Fällen verhalten soll. Derowegen rede, was zu Deiner Nothdurft dient, darob ich wissen kann, wie diese Begebnis zu entscheiden.

Hierdurch ermuthigt, trug Heinrich von Kempten ihm hierauf in geziemender Ehrfurcht den Verlauf der Sache vor, und fügte die demuthsvolle Bitte um Vergebung seines zwiefachen Vergehens auf seinen Knieen hinzu.

Zorn und Rachsucht schwiegen in des Kaisers edlem Herzen, und er hob das früher gefällte Todesurtheil wieder auf, und begnadigte den Reuigen. Doch, dieweil Du mir den Bart, die Zierde des Mannes, mit kühner Hand zerrauft und verwüstet hast, fügte er hinzu, so sollst Du eine Zeitlang mein Angesicht meiden, und mir nicht unter die Augen treten.[124]

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 118-125.
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