Klagen eines Geometers

über den Verfall der Reize seiner Frau.

[52] O Zeit! du böser Circulus,

du Feindin aller Ehen,

ach, was du nur berührtest, muß

in deiner Hand vergehen;

du Reizverderberin, sag' an:

was hat dir meine Frau gethan?


Sie zeigt mir, ach, im Negligee,

anstatt der Schönheit Spuren,[52]

jetzt lauter mathematische

verzweifelte Figuren;

ihr Leib ist eine Tabula

der ganzen Mathematica.


Ach, ihr Gesichtchen, sonst so reich

an regulairen Zügen,

der reizendsten Ellipsis gleich,

gemacht, mich zu besiegen,

ist iztz, besehen um und um,

ein schreckliches Triangulum.


Ihr Mündchen, sonst so parallel

mit beiden Augenbogen,

ist itzo, – Gott verzeih' mir's – scheel,

und jämmerlich verzogen,

und in dem Mund rollt jetzt herum

ein mobile perpetuum.


Wie schön war nicht ihr Wangenpaar

vor kurzem noch formiret,

ein herrliches Convexum, gar[53]

mit Rosen emailliret,

und dies Convexum, – schade drum!

ist leider jetzt ein Concavum.


Ich weiß nicht, was dem Kinn geschah

das ich so gern sonst drückte,

ich dacht' an die Parabola,

so oft ich es erblickte,

und jetzt fällt mir dabei, o Pein!

der Angulus acutus ein.


Sonst hob und dehnt' ihr Busen sich

in altum et in latum,

jetzt ist er, o wie ärgert's mich,

ein planum inclinatum;

die beiden hemispheria

sind nun zwei kleine pendula.


Die Hüften, ach, sonst waren sie

viel ründer und viel fetter,

nun stehen sie hervor, als wie

zwei harte dicke Bretter,[54]

sind mager, eckig und kurz um

ein Parallelepipedum.


Die Schenkel sind nicht mehr so schön,

sie waren sonst viel ründer,

und fühlten sich vordem wie zween

elastische Cylinder,

nun aber sehen sie, o Graus!

als wie ein Polygonum aus.


Und noch eins, o – zwo Linien,

die sonst so schwer sich trennten,

zu eng für meinen ehlichen

gefürchteten Tangenten,

verwandeln jetzt gar fürchterlich

in einen weiten Rhombus sich.


So muß ich leider merken, was

die Mathematik lehret.

Ja, zwischen Mann und Weib ist das

Verhältniß umgekehret,[55]

erst war ich groß und sie war klein,

nun wird sie groß, und ich schrumpf' ein.


Ung[enannt]. (= Aloys Blumauer)

Quelle:
Nuditäten oder Fantasien auf der Venus-Geige. Padua [o. J.], S. 52-56.
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