Die vierte Reise Sindbads des Seefahrers

[410] Wisset, o meine Brüder, nach der Rückkehr von meiner dritten Reise versammelte ich um mich meine Freunde, und ich vergaß im Genuß des Behagens und des Wohlstands und der Ruhe gar bald all meine Gefahren und Beschwerden; eines Tages aber suchte mich eine Schar von Kaufleuten auf, die sich zu mir setzten und von Reisen und Handelsgeschäften in fernen Ländern plauderten, bis sich der alte, böse Adam wieder in mir regte und sich danach sehnte, mit ihnen zu ziehen und den Anblick fremder Länder zu genießen; und da es mich verlangte nach dem Verkehr mit den verschiedenen Rassen der Menschen und nach dem Handel und dem Verdienst, so beschloß ich, sie zu begleiten. Ich kaufte mir alles, was nötig ist für eine weite Reise, erstand großen Vorrat an kostbaren Waren, mehr als je zuvor, und brachte sie von Bagdad nach Bassorah, wo ich mich mit den Kaufleuten, den ersten der Stadt, einschiffte. Vertrauend auf den Segen des allmächtigen Allah gingen wir unter Segel, und mit günstigem Winde und unter den besten Verhältnissen fuhren wir von Insel zu Insel dahin, und von Meer zu Meer, bis sich eines Tages ein widriger Wind erhob und der Führer des Schiffes den Anker auswarf, um das Fahrzeug zum Stehen zu bringen, denn er fürchtete, wir würden mitten auf dem Meere untergehen. Wir alle begannen zu beten und uns vor dem[410] Höchsten zu demütigen; doch als wir also beschäftigt waren, traf uns eine furchtbare Bö, die die Segel in Streifen und Fetzen zerriß; das Ankertau barst, und das Fahrzeug kenterte, so daß wir alle mitsamt unseren Waren ins Meer geworfen wurden. Den halben Tag hindurch hielt ich mich durch Schwimmen über Wasser, bis der allmächtige Allah mir, als ich mich eben verloren gab, eins der Bretter des Schiffes in den Weg warf, das ich mit einigen anderen der Kaufleute erkletterte; und wir bestiegen es wie ein Pferd, indem wir mit den Füßen, die ins Wasser hingen, ruderten. In dieser Lage nun blieben wir einen Tag und eine Nacht, und der Wind und die Wellen halfen uns vorwärts; und als am zweiten Tage kurz vor der Mitte zwischen Sonnenaufgang und Mittag der Wind auffrischte und das Meer anschwoll, warfen uns die steigenden Wellen auf eine Insel; wir aber waren vor Müdigkeit und Entbehrung des Schlafes, vor Kälte und Hunger und Furcht und Durst halbtot. Doch bald fanden wir am Strande, als wir umhergingen, Kräuter die Fülle, von denen wir aßen, um Leib und Seele zusammenzuhalten und die sinkenden Lebensgeister zu erfrischen. Schließlich legten wir uns nieder und schliefen dicht beim Meere bis zum Morgen. Und als der Morgen kam in seinem leuchtenden Schein, da standen wir auf und gingen nach rechts und nach links auf der Insel umher, bis wir in der Ferne ein bewohntes Haus zu Gesicht bekamen. Wir gingen darauf zu und machten nicht eher Halt, als bis wir seine Tür erreichten; und siehe, eine Schar nackter Männer kam heraus, und ohne uns zu begrüßen oder ein Wort zu sagen, legten sie gewaltsam Hand an uns und schleppten uns vor ihren König, der uns ein Zeichen gab, uns zu setzen. Wir setzten uns, und sie stellten Speisen vor uns hin, wie wir sie nicht kannten und derengleichen wir unser Leben lang noch nicht gesehen hatten. Meine Gefährten aßen im Übermaß ihres Hungers davon, mir aber ekelte davor, und ich konnte nicht essen; und daß ich mich dieser Speise enthielt, das wurde durch Allahs Huld zum Mittel meiner Rettung; denn kaum hatten meine Gefährten davon gekostet, so entfloh ihr Verstand, und sie wandelten sich und begannen es wie Irre zu verschlingen, die von einem bösen Geist besessen sind. Dann gaben die Wilden ihnen[411] Kokosöl zu trinken und salbten sie damit; und kaum hatten sie davon getrunken, so drehten sich ihnen die Augen in den Kopf hinein, und sie begannen, ganz gegen ihre Gewohnheit, gierig zu schlingen. Als ich aber das sah, da geriet ich in Sorge und Not um sie, und aus Furcht vor den Nackten war ich nicht minder um mich selbst besorgt. Ich sah sie mir aufmerksam an, und es dauerte nicht lange, so er kannte ich, daß sie ein Stamm kannibalischer Magier waren, ihr König aber ein Ghul. Alle, die in ihr Land kamen oder die sie in ihren Tälern oder auf ihren Straßen fingen, führten sie vor diesen König, und sie gaben ihnen jene Speise zu essen und salbten sie mit jenem Öl, worauf ihr Magen sich erweiterte, so daß sie übermäßig aßen, während ihnen der Verstand entfloh und sie die Kraft des Denkens verloren und zu Idioten wurden. Dann mästeten sie sie mit Kokosöl und vorbenannten Speisen, bis sie dick und fett genug wurden, um sie zu schlachten, indem sie ihnen die Kehle durchschnitten und sie brieten, damit der König sie verzehre; die Wilden selber aber aßen das Menschenfleisch roh. Als ich nun das sah, da graute mir um meinetwillen und um meiner Gefährten willen, die jetzt so stumpf geworden waren, daß sie nicht mehr wußten, was mit ihnen geschah; und die Nackten übergaben sie einem, der sie jeden Tag hinauszuführen hatte, wo sie wie das Vieh auf den Weiden der Insel weideten. Und sie wanderten unter den Bäumen dahin und ruhten sich aus, sooft sie wollten, und wurden auf diese Weise sehr fett. Ich aber verzehrte mich und wurde krank vor Furcht und Hunger, und mein Fleisch schrumpfte mir auf den Knochen zusammen; als jedoch die Wilden das sahen, da überließen sie mich mir selber und achteten meiner nicht mehr, ja, sie vergaßen mich so vollständig, daß ich ihnen eines Tages entschlüpfen konnte. Ich verließ ihren Bau und brach nach der Küste auf, die weit entfernt war, und dort erspähte ich einen sehr alten Mann, der auf einem hohen, rings von Wasser umgürteten Felsen saß. Ich sah ihn mir an und erkannte in ihm den Hirten, dem meine Gefährten anvertraut worden waren, und bei ihm sah ich noch viele andere, denen es ebenso erging. Doch auch er sah mich und erkannte, daß ich noch im Besitz meines Verstandes war und nicht besessen wie die andern, die er[412] hütete; und er winkte mir aus der Ferne, als wollte er sagen: ›Wende dich zurück und schlage den Weg zur Rechten ein, denn der wird dich auf des Königs Straße führen.‹ Ich tat, wie er mir riet und folgte dem Wege zur Rechten, indem ich aus Furcht bald lief und bald gemächlich dahinschritt, ohne mich auszuruhen, bis ich dem Alten außer Sicht kam. Mittlerweile war auch die Sonne untergegangen, und die Dunkelheit brach herein; ich setzte mich also, um zu ruhen, und gern wäre ich eingeschlafen, doch vor dem Übermaß der Angst und des Hungers und der Ermattung kam in jener Nacht kein Schlaf zu mir. Als endlich die Nacht zur Hälfte verstrichen war, stand ich auf und ging weiter, bis der Tag in seiner ganzen Schönheit anbrach und die Sonne sich über die Häupter der hohen Hügel und über die flache steinige Ebene erhob. Nun war ich müde, und mich hungerte und dürstete; ich aß mich also satt an den Kräutern und Gräsern, die auf der Insel wuchsen, hielt Leib und Seele zusammen und kräftigte mir den Magen; dann brach ich von neuem auf und zog den ganzen Tag und die folgende Nacht dahin und stillte derweilen meinen Hunger mit Wurzeln und Kräutern. Und sieben Tage samt ihren Nächten ließ ich zu wandern nicht ab, bis ich am Morgen des achten Tages in der Ferne etwas unklar sah. Ich ging darauf zu, obgleich mir das Herz bebte, nachdem ich so viel erduldet hatte, und siehe, es war eine Schar von Leuten, die Pfefferkörner ernteten. Sowie sie mich erblickten, eilten sie auf mich zu, umringten mich von allen Seiten und sprachen: ›Wer bist du, und woher kommst du?‹ Versetzte ich: ›Wisset, ihr Leute, ich bin ein armer Fremdling‹; und ich machte sie mit meiner Lage bekannt und mit all der Mühsal und den Gefahren, die ich erduldet hatte, und erzählte ihnen, wie ich den Wilden entflohen war; sie staunten und wünschten mir Glück zu meiner Rettung, indem sie sprachen: ›Bei Allah, dies ist wunderbar! Wie aber entkamst du den Schwarzen, die die Insel durchschwärmen und alle verschlingen, denen sie begegnen, noch auch ist irgend jemand sicher vor ihnen, und keiner entgeht ihren Klauen?‹ Und als ich ihnen das Schicksal meiner Gefährten erzählt hatte, nötigten sie mich, mich zu setzen, bis sie ihre Arbeit erledigt hätten; und sie brachten mir ein wenig guter Speise, die ich[413] aß, denn ich war hungrig; und als ich mich ausgeruht hatte, schifften sie sich mit mir ein, nahmen mich mit auf ihre Insel und führten mich vor ihren König, der meinen Gruß erwiderte und mich ehrenvoll aufnahm und nach meinen Erlebnissen fragte. Ich erzählte ihm alles, was mir seit dem Tage, da ich Bagdad verlassen hatte, begegnet war, also daß er staunte ob meiner Abenteuer, er samt seinen Höflingen, und mir befahl, mich zu seiner Seite zu setzen. Dann rief er nach Speise, und ich aß mit ihm, bis ich gesättigt war, wusch mir die Hände und dankte dem allmächtigen Allah für seine Huld, indem ich ihn pries und verherrlichte. Und als ich den König verließ, ging ich in der Stadt umher, mich zu ergötzen, und ich sah, daß sie wohlhabend und volkreich war, versehen mit einer Fülle von Marktstraßen voller Nahrungsmittel und Waren, Käufer und Verkäufer. Da freute ich mich, daß ich einen so schönen Ort erreicht hatte, und ich ließ es mir nach all der Mühsal wohl sein. Ich schloß Freundschaft mit den Städtern, und es dauerte nicht lange, so stand ich bei ihnen und ihrem König in höheren Ehren als irgendeiner der Großen des Reiches. Nun sah ich, daß all die Bürger, große wie kleine, auf schönen Pferden von hohem Wert und reinem Blute ritten, doch ohne Sattel und Schabracke. Das wunderte mich, und ich sprach zu dem König: ›Weshalb, o mein Herr, reitest du nicht auf einem Sattel? Er macht es dem Reiter bequem und steigert seine Kraft.‹ ›Was ist ein Sattel?‹ fragte er; ich versetzte: ›Mit deiner Erlaubnis will ich dir einen Sattel machen, damit du darauf reiten kannst und seinen Nutzen erkennst.‹ Sprach er: ›Tu das.‹ Und ich: ›Versieh mich mit einigem Holz‹; und als es gebracht wurde, suchte ich mir einen geschickten Zimmermann, setzte mich neben ihn und zeigte ihm, wie er den Sattelbaum machen mußte, indem ich ihm mit Tinte ein Bild auf dem Holz entwarf. Dann nahm ich Wolle, kämmte sie und machte Filz daraus; und ich überzog den Sattelbaum mit Leder, polsterte und polierte es und hing den Gurt und die Bügelriemen daran auf; dann holte ich mir einen Schmied und schilderte ihm die Art der Steigbügel und des Zaumgebisses. Und er schmiedete mir ein schönes Paar Steigbügel und ein Gebiß, feilte sie glatt und verzinnte sie. Ferner befestigte ich seidene[414] Fransen an den Sattel und zog die Zügelriemen durch das Gebiß. Und schließlich holte ich mir eines der besten Pferde aus dem Stall des Königs, sattelte es und schirrte es auf, hing die Steigbügel an den Sattel und führte es vor den König. Dem König gefiel mein Werk, und er dankte mir. Dann saß er auf und freute sich des Sattels sehr und belohnte mich reichlich. Als aber der Vezier des Königs den Sattel sah, bat er mich um einen gleichen, und ich machte ihm einen. Ferner kamen all die Großen und Würdenträger des Staates zu mir und baten auch um Sättel; und ich verlegte mich darauf, Sättel zu machen (denn ich hatte dem Schreiner und den Schmied die Kunst gelehrt) und sie einem jeden zu verkaufen, der sie begehrte, bis ich großen Reichtum gesammelt hatte und hoch stieg in Ehren und in der Gunst des Königs und seines Hauses und seiner Großen. In dieser Weise lebte ich, bis eines Tages der König, als ich in aller Ehrfurcht und Zufriedenheit bei ihm saß, zu mir sprach: ›Wisse, du da, du bist einer von uns geworden, du bist uns teuer wie ein Bruder, und wir halten dich so hoch in Ehren und Ansehen, daß wir uns nicht von dir trennen können, noch auch dich fortziehen lassen aus unserer Stadt; deshalb wünsche ich, daß du mir in einer bestimmten Sache gehorchest, und ich will, daß du mir nicht widersprichst.‹ Versetzte ich: ›O König, was ist das, was du von mir begehrst? Ferne sei es von mir, dir in irgend etwas zu widersprechen, denn ich bin für manche Gunst und Huld und Güte in deiner Schuld, und ich bin (Preis sei Allah!) zu einem deiner Diener geworden.‹ Sprach der König: ›Ich möchte dich mit einem schönen, klugen und anmutigen Weibe vermählen, das so reich ist wie schön, auf daß du einheimisch werdest bei uns und ansässig; und du sollst bei mir in meinem Palast wohnen; deshalb widersetze dich mir nicht, noch auch widersprich mir in dieser Sache.‹ Als ich nun diese Worte vernahm, war ich beschämt und schwieg, konnte ihm aber aus Scham gar keine Antwort geben. Fragte er: ›Weshalb entgegnest du uns nichts, o mein Sohn?‹ Und ich erwiderte und sprach: ›O mein Gebieter, es steht bei dir, zu befehlen, o König der Zeit.‹ Da berief er den Kasi und die Zeugen und vermählte mich auf der Stelle einer Dame aus hohem Stamm und[415] vornehmem Geschlecht, reich an Geld und Gut, der Blüte eines alten Hauses; und sie war von unvergleichlicher Anmut und Schönheit und besaß viele Pachthöfe und Landgüter und Wohnhäuser. Als nun mein Gebieter, der König, mich diesem auserlesenen Weibe vermählt hatte, gab er mir auch ein großes und herrliches Haus, das für sich allein stand, und ferner schenkte er mir Sklaven und Diener und wies mir Sold und Einkünfte an. Und ich lebte in aller Behaglichkeit und Zufriedenheit und Freude, und vergaß, was mir widerfahren war an Mühsal, Entbehrung und Not; denn ich liebte mein Weib mit herzlichster Liebe, und sie liebte mich nicht minder, so daß wir waren wie ein einziges Wesen, und lebten im höchsten Genuß und Glück des Lebens. Und ich sprach bei mir selber: ›Wenn ich zurückkehre in meine Heimat, so will ich sie mit mir nehmen.‹ Doch was dem Menschen vorbestimmt ist, das muß geschehen, und keiner weiß, was ihm widerfahren wird. Lange lebten wir so dahin, bis der allmächtige Allah einen meiner Nachbarn seines Weibes beraubte. Nun war er mein Freund, und als ich den Ruf der Klageweiber vernahm, ging ich zu ihm, um ihm mein Beileid zu seinem Verluste auszusprechen, und fand ihn in arger Verfassung vor, voll von Kummer und müde an Seele und Geist. Ich trauerte mit ihm, tröstete ihn und sprach: ›Gräme dich nicht um dein Weib, die Allahs Gnade gefunden hat. Der Herr wird dir gewißlich an ihrer Stelle ein besseres geben, so wird dein Name groß werden, und dein Leben wird dauern im Lande, Inschallah!‹ Er aber weinte die bittersten Tränen und erwiderte: ›O mein Freund, wie kann ich mich einem anderen Weibe vermählen, und wie soll Allah sie durch eine bessere ersetzen, da ich doch nur noch einen Tag zu leben habe?‹ ›O mein Bruder,‹ sprach ich, ›komm wieder zu Verstande und verkündige nicht die Botschaft deines eigenen Todes, denn du bist gesund und wohlauf und munter.‹ ›Bei deinem Leben, o mein Freund,‹ versetzte er, ›morgen wirst du mich verlieren und mich nicht wiedersehen vor dem Tage der Auferstehung.‹ Fragte ich: ›Wieso?‹ Und er erwiderte: ›Heute noch begraben sie mein Weib, und sie begraben mich mit ihr in einem Grabe; denn es ist die Sitte bei uns, wenn das Weib als erste stirbt, den Mann lebendig mit ihr zu begraben, und[416] ebenso das Weib, wenn der Mann als erster stirbt; so daß keiner mehr das Leben genießen kann, wenn er seinen Genossen verloren hat.‹ ›Bei Allah,‹ rief ich, ›das ist eine schändliche, schmähliche Sitte, die keiner ertragen kann!‹ Derweilen nun kamen, siehe, die meisten Leute der Stadt herbei und trauerten mit meinem Freunde um sein Weib und ihn. Dann bahrten sie, wie sie es gewohnt waren, die Tote auf, legten sie auf die Bahre und führten sie und ihren Gatten zur Stadt hinaus, bis sie am Ende der Insel beim Meere zu einer Berglehne kamen; dort hoben sie eine große Platte auf, die den steingefügten Rand einer Grube oder eines Brunnens bedeckte, der wieder tief unten in eine riesige unterirdische Höhle unter dem Berge führte. In diesen Schacht warfen sie die Leiche hinab; dann banden sie dem Gatten einen Strick aus Palmenfasern unter die Armhöhlen und ließen ihn hinab, und mit ihm einen großen Krug frischen Wassers und sieben Brote als Wegeszehrung. Als er den Boden erreicht hatte, band er sich von dem Seil los, und sie zogen es herauf; und als die Öffnung des Schachtes wieder mit der Platte verdeckt war, kehrten sie in die Stadt zurück, während sie meinen Freund mit seinem toten Weibe in der Höhle ließen. Als ich das sah, sprach ich bei mir selber: ›Bei Allah, diese Todesart ist noch furchtbarer als die erste!‹ Und ich ging zu dem König und sprach zu ihm: ›O mein Herr, weshalb begrabt ihr die Lebendigen mit den Toten?‹ Sprach er: ›Du mußt wissen, so ist es seit unvordenklichen Zeiten bei unseren Ahnen und bei den alten Königen die Sitte gewesen; wenn der Gatte zuerst stirbt, so begraben wir sein Weib mit ihm, und ebenso umgekehrt, um sie im Leben und im Tode nicht zu trennen.‹ Fragte ich: ›O König der Zeit, wenn nun das Weib eines Fremdlings unter euch stirbt, wie meines, handelt ihr dann an ihm wie an jenem?‹ Und er erwiderte: ›Gewiß, wir tun mit ihm, was du gesehen hast.‹ Als ich das hörte, da war es mir, als müßte mir die Gallenblase bersten vor dem Übermaß des Entsetzens und der Sorge um mich; mein Verstand war betäubt, mir war, als wäre ich in einem scheußlichen Kerker eingesperrt; und ich haßte ihre Gesellschaft, denn ich ging fortan in beständiger Furcht einher, mein Weib könne vor mir sterben und sie würden mich lebendig mit ihr begraben. Nach[417] einer Weile jedoch tröstete ich mich und sprach bei mir: ›Vielleicht werde ich vor ihr sterben, oder ich kehre in meine Heimat zurück, bevor sie stirbt, denn niemand weiß, wer als erster geht und wer als letzter.‹ Und ich schickte mich an, meinen Geist durch allerlei Beschäftigungen von diesem Gedanken abzulenken; doch es dauerte nicht lange, so erkrankte mein Weib und klagte, und wurde bettlägerig und ging nach wenigen Tagen in die Gnade Allahs ein; und der König und alles Volk kamen nach ihrer Sitte, mir und den Ihren ihr Beileid auszusprechen, uns zu trösten über ihren Verlust und zugleich mit mir um mich zu trauern. Dann wuschen die Frauen sie, kleideten sie in ihre reichsten Gewänder und ihren goldenen Schmuck, die Halsbänder und Juwelen, legten sie auf die Bahre und trugen sie zu dem Berge hinaus; dort hoben sie den Stein von dem Schacht und warfen die Tote hinein. Mich aber umringten meine Vertrauten und Freunde und meines Weibes Anverwandte, um von mir Abschied zu nehmen, dieweil ich noch lebte, und mich über meinen eigenen Tod zu trösten, während ich mitten unter ihnen schrie und sprach: ›Der allmächtige Allah hat es niemals erlaubt, die Lebendigen mit den Toten zu begraben! Ich bin ein Fremdling, keiner von den Euren; und ich kann eure Sitte nicht ertragen, und hätte ich sie gekannt, so hätte ich mich niemals unter euch vermählt!‹ Doch sie hörten mich nicht und achteten meiner Worte nicht, sondern legten gewaltsam Hand an mich, banden mich und ließen mich in die Höhle hinab, versehen mit einem großen Krug frischen Wassers und sieben Broten, wie es bei ihnen Sitte war. Als ich den Boden erreicht hatte, riefen sie mir zu, ich solle mich von dem Seil losbinden; ich aber weigerte mich, so daß sie es zu mir herabwerfen mußten. Dann schlossen sie den Schacht mit dem Stein und gingen ihrer Wege. Als sie mich nun mit meinem toten Weibe in der Höhle ließen, den Schacht mit dem Stein verdeckten und ihrer Wege gingen, da sah ich mich um und erkannte, daß ich in einer ungeheuren Höhle voller Leichen war, die einen ekelhaften und scheußlichen Geruch ausströmten, während die Luft schwer war von den Seufzern der Sterbenden. Da begann ich, mir Vorwürfe zu machen ob dessen, was ich getan hatte, indem ich sprach: ›Bei Allah,[418] ich verdiene alles, was mir widerfahren ist und was mir noch widerfahren wird! Welcher Fluch lag auf mir, daß ich mir in dieser Stadt ein Weib vermählen mußte? Es gibt keine Majestät, und es gibt keine Macht, außer bei Allah, dem Glorreichen, Großen! Sooft ich mir sage, ich bin einer Not entronnen, gerate ich in eine noch schlimmere. Bei Allah, dies ist ein abscheulicher Tod! Wollte der Himmel, ich wäre eines schicklichen Todes gestorben und wäre gewaschen worden und aufgebahrt wie ein Mann und Moslem! Wäre ich nur im Meere ertrunken oder in den Bergen umgekommen! Das wäre besser, als eines so elenden Todes zu sterben!‹ Und in dieser Weise schalt ich in jenem schwarzen Loch, wo ich nicht Tag und Nacht unterscheiden konnte, meine eigene Torheit und meine Gewinnsucht; und ich ließ nicht ab, dem verworfenen Feind zu fluchen und den allmächtigen Freund zu segnen. Dann warf ich mich nieder auf die Gebeine der Toten und blieb dort liegen, indem ich Allah um Hilfe anflehte und in der Gewalt meiner Verzweiflung den Tod herbeirief, der nicht zu mir kam; bis schließlich das Feuer des Hungers mir in den Gedärmen brannte und der Durst mir die Kehle entfachte. Da setzte ich mich auf, tastete nach dem Brot, aß einen Bissen und trank einen Schluck Wassers darauf. Und nach dieser furchtbarsten Nacht, die ich je erlebt habe, erhob ich mich, um die Höhle zu erforschen; und ich fand, daß sie sich weithin erstreckte und zu beiden Seiten Ausbauchungen hatte; der Boden aber war mit Leichen und verwesten Gebeinen bestreut, die dort von alters her gelegen haben mochten. In einer dieser Ausbauchungen der Höhle, fern von den Leichen, die erst jüngst herabgeworfen worden waren, machte ich mir ein Lager zurecht, auf dem ich schlief. So lebte ich lange, bis mein Vorrat zur Neige ging, und doch aß ich an jedem Tage oder gar an jedem zweiten Tage nur einmal, und ich trank nie mehr als hin und wieder einen Schluck, denn ich fürchtete, mir könnte die Zehrung ausgehen, bevor ich gestorben wäre; und ich sprach bei mir selber: ›Iß wenig und trink wenig, vielleicht wird der Herr dir die Rettung gewähren!‹ Als ich nun eines Tages so dasaß und mir meine Lage überlegte und nachsann, was ich beginnen sollte, wenn mein Brot und mein Wasser erschöpft wären,[419] siehe, da wurde plötzlich der Stein, der den Schacht bedeckte, fortgerollt, und das Licht des Tages strömte auf mich herab. Sprach ich: ›Ich möchte wissen, was es gibt; vielleicht bringen sie eine neue Leiche.‹ Dann erblickte ich oben am Rande der Grube Leute, die alsbald einen Toten herniederließen, und mit ihm ein lebendes Weib, das weinte und sich beklagte, aber einen größeren Vorrat an Brot und Wasser bei sich hatte als die meisten. Ich sah sie an, und sie war schön; sie aber sah mich nicht; und oben wurde der Schacht geschlossen, und alle gingen davon. Da nahm ich den Schenkelknochen eines Toten, trat zu dem Weibe und schlug sie auf den Scheitel des Kopfes; und sie stieß nur einen einzigen Schrei aus und fiel ohnmächtig nieder; dann schlug ich sie ein zweites und drittes Mal, bis sie tot war, legte die Hand an ihr Brot und ihr Wasser, und fand auf ihrer Leiche vielen Schmuck und reiche Gewänder, Halsbänder, Juwelen und goldenen Zierat; denn es war die Sitte, Frauen in ihrem vollen Schmuck zu begraben. Ich aber schleppte die Zehrung zu meinem Lager in der Seite der Höhle, und aß und trank sparsam, nur genau so viel, wie nötig war, um das Leben in mir festzuhalten, weil sonst der Vorrat zu schnell zur Neige gegangen wäre und ich vor Hunger und Durst hätte umkommen müssen. Doch niemals verlor ich ganz die Hoffnung auf den allmächtigen Allah; und ich lebte in dieser Weise eine lange Zeit hindurch, und ich erschlug all die Lebendigen, die sie hinabließen in die Höhle, und nahm ihnen ihre Vorräte an Speise und Trank. Schließlich aber weckte mich eines Tages, als ich schlief, ein Laut, wie als kratze und wühle etwas unter den Leichen in einem Winkel der Höhle, und ich sprach bei mir selber: ›Was kann das sein?‹ Denn ich fürchtete Wölfe oder Hyänen. Ich sprang empor, faßte den schon erwähnten Schenkelknochen und ging auf das Geräusch zu. Sowie nun das Wesen mich gewahr wurde, floh es vor mir ins Innere der Höhle, und siehe, es war ein wildes Tier. Ich aber folgte ihm bis in die hintersten Gänge, und schließlich sah ich ganz in der Ferne einen Lichtpunkt, der nicht größer schien als ein Stern und bald auftauchte, bald verschwand. Ich schritt darauf zu, und als ich mich näherte, wurde er größer und heller, bis ich gewiß war, daß ich einen Spalt[420] im Felsen gefunden hatte, der aufs offene Land hinausführte. Und ich sprach bei mir selber: ›Es muß ein Grund vorhanden sein für diese Öffnung; entweder mündet sie in einen zweiten Schacht, dem gleich, durch den man mich herniederließ, oder es ist eine natürliche Felsenritze.‹ Ich sann also eine Weile nach, und als ich schließlich dem Lichte folgte, erkannte ich, daß es eindrang durch eine Bresche in der Hinterwand des Berges, die die wilden Tiere durch ihr Graben noch erweitert hatten, so daß sie eindringen konnten, um die Leichen zu verschlingen, und ungehindert ein und aus gehen konnten. Als ich aber das sah, da erwachten meine Lebensgeister von neuem, die Hoffnung kehrte zu mir zurück, und ich war des Lebens gewiß, nachdem ich schon des Todes gestorben war. Wie im Traume ging ich weiter, und als es mir gelang, durch die Bresche hinauszukriechen, sah ich mich auf dem Hang eines hohen Berges, der das Salzmeer überschaute und jeden Zugang von der Insel abschnitt, so daß von der Stadt aus niemand diesen Teil der Küste betreten konnte. Ich pries meinen Herrn und dankte ihm, denn ich freute mich sehr, und die Aussicht auf die Rettung gab mir frischen Mut; dann kehrte ich durch den Spalt in die Höhle zurück und holte mir all die Zehrung und das Wasser, das ich mir aufgespart hatte, und legte ein paar der Kleider von den Toten über den eigenen an. Und schließlich sammelte ich all die Halsbänder aus Perlen und Juwelen, und den edelsteinbesetzten Gold- und Silberschmuck und all die andern Kostbarkeiten und wertvollen Dinge, die ich bei den Leichen fand. Und indem ich sie mit den Totenlaken und Gewändern der Leichen in Bündel schnürte, trug ich sie auf den Rücken des Berges an der Meeresküste hinaus, wo ich mich niederließ, um dort zu warten, bis es dem allmächtigen Allah gefallen würde, mir Rettung zu senden durch ein vorüberfahrendes Schiff. Täglich besuchte ich die Höhle, und sooft ich in ihr lebendig Begrabene fand, erschlug ich sie alle, ob Männer ob Frauen, nahm ihnen ihre Zehrung und ihre Kostbarkeiten und trug sie zu meiner Stätte am Ufer des Meeres. In dieser Weise lebte ich eine lange Zeit hindurch und grübelte ob meiner Not, bis ich eines Tages ein Schiff erspähte, das mitten im brandenden, wogengeschwellten Meere dahinfuhr. Da nahm ich[421] einen Fetzen weißen Totenlinnens, den ich bei mir hatte, band ihn an einen Stab und lief den Strand entlang, indem ich Zeichen damit gab und den Leuten im Schiffe zurief, bis sie mich sahen und meine Rufe hörten und ein Boot aussetzten, um mich zu holen. Als nun das Boot sich näherte, rief die Mannschaft nach mir und sprach: ›Wer bist du, und wie kamst du auf diesen Berg, darauf wir niemanden sahen, solange wir leben?‹ Versetzte ich: ›Ich bin ein Kaufherr, der Schiffbruch erlitt, und ich rettete mich mit einigen meiner Waren auf einer Planke des Schiffs; und durch den Segen des Allmächtigen und nach der Bestimmung des Schicksals, sowie auch vermöge eigener Kraft und Geschicklichkeit landete ich nach vieler Mühsal und Beschwerde mit meinem Gerät an dieser Stelle, wo ich eines vorüberfahrenden Schiffes harrte, das mich mitnehmen würde.‹ Da nahmen sie mich mit den Bündeln, die ich aus den Juwelen und Kostbarkeiten der Höhle gemacht hatte, indem ich sie in Gewänder und Totenlaken band, ins Boot und ruderten zu dem Schiff zurück, wo der Kapitän zu mir sprach: ›O Mann, wie kamst du an jene Stelle bei dem Berge, hinter dem sich eine große Stadt befindet? Mein Leben lang bin ich in diesen Meeren gesegelt und hin und her gefahren an diesen Höhen, aber nie noch sah ich hier ein lebendes Wesen, außer wilden Tieren und Vögeln.‹ Ich wiederholte ihm, was ich der Mannschaft berichtet hatte; doch verschwieg ich ihm alles, was mir in der Stadt und der Höhle widerfahren war, denn ich fürchtete, es möchte jemand von der Insel auf dem Schiffe sein. Dann holte ich ein paar der besten Perlen, die ich bei mir hatte, hervor, bot sie dem Schiffsführer an und sprach: ›O mein Herr, du bist zum Werkzeug meiner Rettung von diesem Berge geworden. Ich habe kein bares Geld; aber nimm dies zum Lohn für deine Güte und deinen freundlichen Dienst.‹ Er jedoch weigerte sich, sie anzunehmen, und sprach: ›Wenn wir an der Meeresküste oder auf einer Insel einen Schiffbrüchigen finden, so nehmen wir ihn auf und geben ihm zu essen und zu trinken, und wenn er nackt ist, so kleiden wir ihn; und niemals nehmen wir etwas von ihm an, sondern wenn wir den Hafen der Sicherheit erreichen, so setzen wir ihn mit einem Geldgeschenk ans Land und handeln um Allahs, des[422] Höchsten, willen freundlich und barmherzig an ihm.‹ Da betete ich, er möge lange leben im Lande, und ich freute mich meiner Rettung, denn ich vertraute darauf, daß ich befreit wäre aus meiner Not und all mein Unglück vergessen würde. Sooft ich aber daran dachte, wie ich mit meinem toten Weibe in die Höhle hinabgelassen worden war, schauderte ich voller Grauen zusammen. Dann setzten wir unsere Reise fort und segelten von Insel zu Insel, und von Meer zu Meer, bis wir zur Glockeninsel kamen, darauf eine Stadt steht, die ist zwei Tagereisen lang; und nach sechs weiteren Tagen kamen wir zu der Insel Kala, dicht bei dem Lande Hind. Und schließlich kamen wir nach der Bestimmung Allahs wohlbehalten in Bassorah an, wo ich ein paar Tage blieb, um dann nach Bagdad aufzubrechen. Dort suchte ich gleich mein Quartier auf und betrat mein Haus in lebhafter Freude. Ich versammelte all die Meinen und meine Freunde, die sich meiner wohlbehaltenen Heimkehr freuten und mir Glück zu meiner Rettung wünschten. Die Waren aber, die ich mitgebracht hatte, speicherte ich in meinen Vorratshäusern auf, und ich gab Almosen und Spenden an die Fakire und Bettler, und kleidete die Witwen und Waisen. Dann überließ ich mich der Lust und dem Vergnügen, indem ich meine alte, heitere Lebensweise wieder aufnahm. Solches also sind die wunderbarsten Abenteuer meiner vierten Reise, aber morgen will ich, wenn ihr mich freundlich aufsuchen wollt, euch erzählen, was mir auf meiner fünften Reise widerfuhr, denn es ist noch seltsamer und wunderbarer als alles, was ihr vorherging. Und du, o mein Bruder, Sindbad vom Lande, sollst wie gewöhnlich das Nachtmahl mit mir nehmen.‹

(Spricht der, der die Geschichte erzählt:) Als nun Sindbad der Seefahrer seine Geschichte beendet hatte, rief er nach dem Nachtmahl; und man breitete die Tische, und die Gäste nahmen die Abendmahlzeit; dann gab er wie immer dem Lastträger hundert Dinare, und er und die anderen der Versammlung gingen ihrer Wege, freudigen Herzens und staunend ob der Geschichten, die sie vernommen hatten, denn jede folgende Geschichte war immer noch merkwürdiger als die, so ihr voranging. Der Lastträger Sindbad verbrachte die Nacht in aller Freude und Heiterkeit und Verwunderung in seinem[423] eigenen Hause, und sowie der Morgen kam in seinem leuchtenden Schein, betete er das Morgengebet und begab sich nach dem Hause Sindbads, des Seefahrers, der ihn willkommen hieß und ihn bat, sich zu setzen, bis die andern Gäste kämen; dann aßen und tranken sie und vergnügten sich, während Geplauder unter ihnen kreiste. Und schließlich begann ihr Gastgeber den Bericht seiner fünften Reise.

Quelle:
Die schönsten Geschichten aus 1001 Nacht. Leipzig [1914], S. 410-424.
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