Alle bey Gott, die sich lieben

[247] Mündlich.


Es hatt' ein Herr ein Töchterlein,

Mit Nahmen hieß es Annelein,

Ein Herrn wollt man ihr geben,

Frau Markgräfin sollte es werden.


Ach Vater ich nehm noch keinen Mann,

Ich bin nicht älter dann elf Jahr,

Ich bin ein Kind und sterb fürwahr.


Es stund nicht an ein halbes Jahr,

Das Fräulein mit dem Kinde ging,

Sie bat ihren Herrn im Guten,

Er sollt jezt holen ihre Mutter.


Und als er in den finstern Wald einritt,

Ihm seine Schwieger entgegen schritt:

»Wo habt ihr dann euer Fräulein?«


Mein Fräulein liegt in großer Noth,

Fürcht, wenn wir kommen, sei sie schon todt;

Mein Fräulein liegt in Ehren

Ein Kind soll sie gebähren.


Und als er über die Heide ritt,

Ein Hirtlein hört er pfeifen,

Ein Glöcklein hört er läuten.


Ei Hirtlein, liebes Hirtlein mein,

Was läutet man im Klösterlein,[247]

Läutet man um die Vesperzeit,

Oder läutet man um eine Todten Leich?


Man läutet um eine Todten Leich!

Es ist dem jungen Markgrafen

Sein Fräulein mit dem Kind entschlafen.


Und als er zu dem Thor einritt,

Und als er in den Hof einritt,

Drei Lichter sieht er brennen,

Drei Schüler Knaben singen.


Und als er in die Stube kam

Sein Fräulein in der Bahre lag,

Das Kindlein in ihren Armen lag.


Er küßt sie an ihren bleichen Mund,

Jezt bist du todt und nimmer gesund.

Er küßt sein Kindlein an ihrem Arm,

Das Gott erbarm, das Gott erbarm.


Die Mutter die war ganz allein,

Die sezt sich an ein harten Stein,

Vor Leid brach ihr das Herz entzwei.


Da zog er aus sein glitzerich Schwerd,

Und stachs sich selber durch sein Herz:

Er sprach, ists nicht ein Straf von Gott,

Vier Leichen in eines Fürsten Schloß.


Es stand nicht länger als drei Tag,

Drei Lilien wuchsen auf des Fräuleins Grab,

Die erste weiß, die andre schwarz.[248]


Die schwarz dem kleinen Kindlein war,

Weil es noch nicht getaufet war;

Auf der dritten war wohl geschrieben:

Sie sind all bei Gott, die sich lieben.


Den Herrn, den gräbt man wieder aus,

Legt ihn zum Annelein ins Gotteshaus,

Da liegen vier Leichen zusammen,

Das Gott erbarme. Amen!


Quelle:
Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Band 2, Stuttgart u.a. 1979, S. 247-249.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Des Knaben Wunderhorn
Ludwig Achim's von Arnim sämtliche Werke: Band XVII. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Band 3
Sämmtliche Werke, Neue Ausgabe. Herausgegeben von Bettina von Arnim und Wilhelm Grimm. Band 06: Des Knaben Wunderhorn I und II. - Reprint der Ausgabe von 1857
Des Knaben Wunderhorn Band 2
Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L.A.v. Arnim und Cl. Brentano. Neu bearbeitet von Anton Birlinger und Wilhelm Crecelius; ... in Holz geschnitten von C.G. Specht: Band. 1
Ludwig Achim's Von Arnim Sämmtliche Werke: Des Knaben Wunderhorn. T. 3 (German Edition)

Buchempfehlung

Anonym

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Li Gi - Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche

Die vorliegende Übersetzung gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert wieder, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammlungen ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten.

278 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon