Wie die sieben Schwaben vor einem Galgen vorbeigehen, und einen Gehenkten befreien.

[171] Außer Ravensburg kamen die sieben Schwaben vor einem Galgen vorbei. Du mußt aber wissen, wenn du es nicht schon weißt, günstiger Leser! daß es nirgends mehr Galgen gibt im ganzen deutschen Reich, als im Schwabenland;[171] woraus du jedoch nicht den Schluß machen darfst, daß dort die Spitzbuben zu Haus seien, sondern sie laufen eben aus allen übrigen Gegenden Deutschlands zusammen, wo sie wissen, daß sie Niemand fängt und hängt. Der Ravensburger Galgen stand aber nur selten leer, und war zu derselbigen Zeit der berühmteste nach dem Buchloer, an dem meistens ein halb Dutzend zugleich hingen. Und so pampelte denn auch einer an jenem Galgen, und er schien noch ein Frischling und nicht über einen Monat alt zu sein. Da fiel dem Spiegelschwaben ein, daß ein Diebsfinger geheime Kräfte habe, und man könne zu Geld kommen, ohne daß man es, was man so nennt, stehle. Er wollte daher dem Patron einen Finger abschneiden, vermeinend, daß er ihm doch nimmer weh thue; er krächselte den Galgen hinauf, und setzte sich grattlings auf die Schultern des armen Sünders. Da brach der Strick, und er fiel mit sammt dem Todten herunter, der, weil er ganz starr war, aufrecht an das Lander sich hinlehnte, als wollte er drüber steigen; und der Spiegelschwab saß noch auf ihm. Das sahen die andern Gesellen; und im ersten Schrecken vermeinten sie, der Schächer sei lebendig geworden, und wolle ihnen nachlaufen. Und sie rannten davon, wie Spitzbuben, ohne umzuschauen, und rannten immer mehr, da sie hörten, daß wirklich einer hinter ihnen her trotte, – es war aber der Spiegelschwab, der auch nicht säumte – und sie wären vielleicht fortgerannt bis ans Ende der Welt, wenn ihnen nicht endlich der Schnaufer ausgegangen wäre. Da sahen sie nun wol, daß Niemand hinter ihnen her sei; aber nehmen ließen sie sich's nicht, es sei dem wirklich so gewesen, und der Spiegelschwab war derselben Meinung. »Der hat sicher den Gescheidtern gemacht, und ist nach Haus gelaufen; und die Ravensburger mögen sehen, wie sie ihn wieder bekommen« – so sagte einer; ich sag's aber nicht, wer es gesagt hat.

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Volksbüchlein. Band 1, Leipzig [um 1878/79], S. 171-172.
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