544. Die Tiefe des Zarrentiner Sees.

[392] Der Zarrentiner See ist bis etwa 20 Fuß vom Lande sehr flach, dann aber gehts plötzlich in eine bodenlose Tiefe. Die tiefste Stelle des Sees aber soll in der Nähe der vormaligen Kloster-, jetzigen Amtsgebäude sein. Vor langer Zeit wollten die Zarrentiner einmal sehen, wie tief der See an dieser Stelle wohl sei. In Gegenwart einer großen Zuschauermenge fuhren an einem sonnenhellen Nachmittage einige vornehme Zarrentiner, begleitet von einigen Fischerknechten, in einem Boote eine Strecke auf den See und ließen dann ein Tau von bedeutender Länge in die Tiefe. Kaum aber begann man mit diesem Werke, so wurde der See unruhig, das Wasser kräuselte sich leicht und gerieth endlich immer stärker in Bewegung, obgleich es ganz windstill war und die Sonne warm schien. Vorsichtige Leute meinten jetzt, man solle doch von dem Vorhaben abstehen, denn die Geister in der Tiefe wollten es nicht dulden. Doch die Arbeit wurde fortgesetzt. Allein man kam nicht auf den Grund mit dem Tau; es war zu kurz. Da holte man noch ein Seil von ungeheurer Länge herbei, knüpfte es mit dem ersten zusammen und band dann in das Ende, welches hinabgelassen werden sollte, noch eine zinnerne Kaffeekanne. Dann begann man das Seil von Neuem in die Tiefe hinabzulassen. Während dieser Anstalten war der See immer unruhiger geworden, dumpfe Töne ließen sich vernehmen, die Wellen gingen immer höher und es war schon Gefahr für die im Kahne Sitzenden vorhanden. Endlich hatte man das Seil ganz hinabgelassen, kam aber nicht damit auf den Grund. Man begann jetzt, es wieder heraufzuziehen, wobei die Zuschauer, die am Ufer standen, helfen mußten. Als endlich das letzte Ende des Seils im Kahne lag, fand man, daß die zinnerne Kaffeekanne weggeschmolzen war bis auf die Oese. Die Unruhe des Wassers hatte jetzt ihren höchsten Grad erreicht. Es wirbelte im Kreise herum und schlug hohe Wellen. Als das Seil wieder ganz aus dem Wasser herausgezogen war, spaltete sich das Wasser plötzlich auf der Stelle, wo der Kahn stand; dieser selbst schlug um – ein lauter Schrei – dann sah man nichts mehr. In athemloser Spannung hatten die[393] Zuschauer diesem Schauspiele zugesehen. Jetzt schien es ihnen, als würde das Wasser an der Stelle, wo das Boot gestanden, von lebendigen Wesen bewegt. Ein Haupt schaute aus dem See und deutlich vernahm man in schauerlichen Tönen die Worte ›Wehe, wehe, wehe! Wenn dieser Frevel noch einmal versucht wird, soll ganz Zarrentin untergehen wie diese Menschen.‹ Damit verschwand das Haupt. Die Zuschauer aber machten erschreckt, daß sie fortkamen. Das angewandte Seil hatte eine solche Länge, daß man dreimal damit die Kirche umziehen und dann noch dreimal von unten bis an die Thurmspitze messen konnte. Seit der Zeit hat man die Tiefe des Sees nicht wieder zu messen versucht.


Seminarist H. Burmeister.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 392-394.
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