Osterpredigt in Reimen

[251] Verehrter Mitmensch, höre und vernimm

Freundwillig mit Hulden und ohne Grimm:

Dieweil es nun Ostern geworden ist,

Sollst du, von welcher Art du auch bist,

Ob Heide, Jude, Moslem, Christ,

Durchaus vergnügt im Herzen sein,

Osterwürdig und osterrein.


Mit einem Birkenreise kehre

Aus deiner Seele den Geist der Schwere!

Der Wenns und Abers und Achs und Os,

Die hart und starr dein Herz umwindet,

Daß der Geist der Leichte kaum Eingang findet,

Mache dich hurtig und heiter los!


Du brauchst nichts weiter dazuzutun,

Als dich im Grünen auszuruhn.

Da atmet sichs sehr wonnig ein,

Was dir das Herz macht frei und rein:

Der jungen Blumen frischer Hauch;

Und die Augen haben der Wonne auch,

Denn nichts ist lieblicher anzusehn,

Als wie sie da hold beisammenstehn,

Blau, weiß und rosa, klar und licht,

Der Erde süßestes Ostergedicht.


An ihnen dir ein Beispiel zu nehmen,

Sollst du, ach Mensch, dich keineswegs schämen!


Vergiß dein Gehirn eine Weile und sei

Gedankenlos dem lieben Leben[252]

Blumeninnig hingegeben;

Vergiß dein Begehren, vergiß dein Streben

Und sei in seliger Einfalt frei

Des Zwangs, der dich durchs Hirn regiert!


Er hat dich freilich hoch geführt

Und vieles dir zu wissen gegeben,

Aber das allertiefste Leben

Wird nicht gewußt, wird nur gespürt.

Der Blumen zarte Wurzeln fühlen

Im keimlebendigen, frühlingskühlen

Erdboden mehr von ihm als du.

Und bist doch auch ein Kind der Erde.

Daß sie nicht sinnenfremd dir werde,

Wende ihr heut die Sinne zu!


Das ist der festlich tiefe Sinn

Der Ostertage: Mit Entzücken

Sollst du zum Mutterschoß dich bücken.

Gib heut, o Mensch, dich innerst zu beglücken,

Der Mutter Erde frühlingsfromm dich hin!

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 251-253.
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