Ostara

[255] Ostara, die gute Göttin,

Die aus hellen Augen lacht,

Daß von ihrem jungen Lichte

Alles Schlafende erwacht,
[255]

Ostara, die frühlingsfrische

Jungfrau Göttin, deren Mund

Duftet wie die ersten Veilchen,

Mildgewürzig, herbgesund,


Ostara, die Ungestüme,

Liebevolle, die die Welt

Wie ein Bund von Maienrosen

An die vollen Brüste hält,


Ostara, die Magd und Fürstin,

Königlich und bäuerlich –:

Wie die Zeiten sich auch wandeln,

Immer offenbart sie sich.


Ihre Opferherde sanken,

Als das Kreuz sich steil erhob,

Aber jedes Frühjahr rauschen

Wald und Busch ihr Dank und Lob.


Die in Wäldern grün sich kränzten,

Ach, die Deutschen wurden grau,

Aber hell geht durch das Grüne

Noch die frühlingslichte Frau,


Wenn die Urständ sich erneuern,

Wenn das Leben auferwacht,

Denn noch immer gibt es Herzen,

Die der Frühling gläubig macht,


Gläubig zu den alten Göttern,

Die der deutsche Wald gebar,[256]

Als er noch ein Reich von freien,

Heiter kühnen Männern war,


Die in Kampf und Liebe lachten,

Fest aufs Eigene gestellt,

Drob in Einfalt und in Treue,

Bildner einer eignen Welt


Voller Märchen und voll Taten,

Rätselvoll und voller Licht.

Diese Welt ist hingesunken,

Aber ihre Schönheit nicht.


Was ein Volk aus seinem Herzen

Sich zum Bild schuf und zur Lust,

Feiert immer wieder Urständ

Selbst in schwacher Enkel Brust.


Und so sei in diesen Tagen

Voller Glanz uns Ostara,

Die die Väter uns gedichtet,

Huldreich voller Gnaden nah.


Ostara, die Ungestüme,

Liebevolle, die die Welt

Wie ein Bund von Maienrosen

An die vollen Brüste hält.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 255-257.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Ausgewählte Gedichte

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Das Leiden eines Knaben

Das Leiden eines Knaben

Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon