Theater-Reformer

[304] Welch ein Lärmen! Welch ein Schrein! –:

Gebt uns Schläuche! Neue Schläuche!

Seh ich hin, sinds arme Gäuche,

Und sie haben keinen Wein.


Pfui! rufen sie, Guckkasten! Welch ein Stall da!

– Doch über diesem Stalle leuchtete der Stern

Zu mancher göttlichen Geburt. – O, werte Herrn,

Bedenkt den Spruch: Hic Rhodus est, hic salta!


Das ist gewiß: Es wird ein schönes Haus,

Sieht neu, geschmackvoll, festlich, heiter aus,

Und, was der wohlerfahrene Architekt

Erstrebt, es wird erreicht, nicht bloß bezweckt:

Man kann von allen Sitzen alles hörn und sehn.


In dies Theater werd ich gerne gehn,

Sofern das Hörn und Sehn sich auch verlohnt

Und man uns gnädiglich mit dem verschont,

Was jetzt schon, fürcht ich, hier um Einlaß jammert,

Inbrünstig sich an andre Künste klammert,

Weil es allein nicht stehn und gehen kann.
[304]

Denn Krüppel seh ich mir nicht gerne an,

Sind sie auch prächtig, ja in Gold geschient.

Mit Orthopädik ist uns nicht gedient.


Ein schief gewachsenes Mädchen wird nicht grade,

Gehts im Reform-Kostüm zur Promenade.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 304-305.
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