Jesu


Lob- und Leichgedächtniß

[64] Nach der Singweise: Jesu, der du meine Seele, usw.


1.

Fliest, ihr Trehnen, fliest und schiesset,

Fallt und wallet Wangen ab;

Giest, ihr Augen Brunnen, giesset

Gantze Bäche auff das Grab,

Wo im Tode ligt das Leben:

Lasst uns ihm die Letze geben.

Ach, ach, unsre Lebenszier,

Jesus, ist nun nicht mehr hier.


2.

Schöner Himmel, such auff Erden

Deinen König nun nicht mehr,

Hilff beweinen sein Entwerden,

Mach die Wolckenbrunnen leer.

Sonne, Mond und Sternen, weinet!

Eure Sonne nicht mehr scheinet.

Ach, deß Himmelskron und Zier,

Jesus, liegt verblichen hier.

3.

Weint, ihr frommen Engelgeister!

Euer Herr und Printz ist todt,

Euer grosser Ordensmeister,

Dem ihr stundet zu geboth.

Die Geburt habt ihr besungen,

Laßt sein Grab auch seyn beklungen.

Ach, ach, ach, der Engel zier,

Jesus, ligt begraben hier.
[64]

4.

Weinet, O ihr Menschenheerden,

Euer treuer Hirt ist hin.

Ihn verbannte von der Erden

Der ergrimmten Wölffe Sinn.

Er hat vor der Schäflein Leben

Selber sich in Tod gegeben.

Ach, ach, unsrer Erden Zier,

Jesus, ist nun nicht mehr hier.


5.

Weint, ihr seine HirtenKnaben,

Er hat euch, ihr ihn geliebt.

Euer Trost ligt dort begraben.

Freylich, ihr seyd schon betrübt.

Labet doch der Mutter Hertze,

Das zerbrechen wil vor Schmertze.

Ach, ach, aller Hirten Zier,

Jesus, ist nun nicht mehr hier.


6.

Alles, was erschaffen, weine,

Himmel, Erde, Meer und Lufft,

Menschen, Thiere, Bäum und Steine,

Bäch und Brunnen, Wald und Klufft!

Klaget, ihr Geschöpfe, klaget,

Von dem Tod deß Schöpfers saget.

Ach, ach, der Geschöpfe zier,

Jesus, ligt begraben hier.


7.

War doch nichts als lauter Lieben

Seine gantze Lebenszeit,

Das ihn Himmel-ab getrieben;

Er trat vor uns in den Streit

Und erwürgte Wölff und Drachen,

Die zur Beut uns wolten machen.

Ach, ach, unsre Liebeszier,

Jesus, ist nun nicht mehr hier.


8.

Er, der reiche Gott vom Himmel,

Zog in Armuth üm auf Erd

Durch das wüste Weltgetümmel;

Keine Noth hat ihn beschwert,

Die er trug vor unsre Schulden:

Er konnt wie ein Lämmlein dulden.

Ach, ach, unsre Freundeszier,

Jesus, ist nun nicht mehr hier.


9.

Gutes er vor böses thäte,

Er war seiner Feinde Freund.

Niemand ihn ümsonst anflehte,

Niemand hat er Hülff verneint.

Schalt man ihn, er schalt nicht wieder,

Rieb sich schon an ihn ein jeder.

Ach, ach, unsre Freundeszier,

Jesus, ist nun nicht mehr hier.


10.

Er, der hohe Fürst der Sternen,

Er, der Herr, war unser Knecht,

Gab die Demut uns zu lernen,

Die er vorgebildet recht.

Warhafft war er mit dem Munde,

Ohne falsch im Hertzensgrunde.

Ach, ach, unsre Demutzier,

Jesus, ist nun nicht mehr hier.

11.

Selbst die wilden Wölffe heulen,

Die ihn haben ümgebracht,

Ihm ein schönes Lob mitheilen,

Als er itzt gab gute Nacht.

Warlich, wird die Red vernommen,

Diß war einer von den Frommen.

Ach, ach, unsre Seelenzier,

Jesus, ist nun nicht mehr hier.


12.

Aber, ist er schon verblichen,

Bald er wider leben wird;

Von uns bleibt er unentwichen,

Ob der Tod ihn weggeführt.

Ewig, ob wir ihn nicht sehen,

Wil er üm und bey uns stehen.

Unser Trost und unsre Zier,

Jesu, du bist dannoch hier.


13.

Unterdessen sol auff Erden

Alle Jahr' üm diese Zeit

Dein Tod noch beweinet werden,

Biß du auß der Eitelkeit

Uns holst zu den Himmelshöhen,

Da wir werden wieder sehen

Dich, O Jesu, gleich wie hier.

Ach so komm, hol uns zu dir.


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 5, Hildesheim 1964, S. 64-65.
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