Erste Geschichte

[392] Kimon wird durch die Liebe vernünftig und raubt Iphigenie, seine Geliebte, zur See. In Rhodos verhaftet, wird er durch Lysimachos befreit, und beide entführen gemeinschaftlich Iphigenie und Kassandra von ihrem Hochzeitsfest. Sie fliehen nach Kreta und heiraten dort ihre Geliebten, mit denen sie endlich in die Heimat zurückberufen werden.


Mancherlei Geschichten wüßte ich, holdselige Damen, deren Mitteilung einen so fröhlichen Abend, wie der heutige zu werden verspricht, schicklich eröffnete. Eine unter ihnen sagt mir aber am meisten zu, weil ihr nicht allein in ihr den fröhlichen Ausgang wahrnehmen werdet, sondern zugleich auch erkennen könnt, wie heilig, gewaltig und segensreich die Kräfte der Liebe sind, die viele, ohne selbst zu wissen, was sie reden, sehr zu Unrecht tadeln und verdammen. Und da ihr, wenn ich mich nicht täusche, sämtlich verliebt seid, so kann euch diese Einsicht nicht anders als willkommen sein.

Nach dem, was ich vor Zeiten in den alten Geschichten der Zyprier gelesen habe, lebte auf jener Insel ein Mann von edlem Geschlecht, der Aristipp hieß und an Reichtum in irdischen Gütern alle seine Landsleute um vieles übertraf, so daß, wenn das Schicksal ihm nicht in einem Punkte feindlich gewesen wäre, er sich mit besonderem Rechte glücklich hätte erachten können. Er hatte aber unter seinen übrigen Kindern einen Sohn, der an Größe und körperlicher Schönheit zwar die übrigen jungen Männer übertraf, doch zugleich fast albern und blödsinnig zu nennen war. Sein wirklicher Name war Galesus. Weil aber weder die Bemühungen der Lehrer noch Zureden oder Schläge des Vaters, noch endlich der Scharfsinn irgendeines andern imstande gewesen waren, ihm von Kenntnissen[392] oder guten Sitten das mindeste beizubringen, und vielmehr seine Stimme plump und mißtönend, sein Betragen aber mehr einem Vieh als einem Menschen angemessen geblieben war, so nannten ihn alle im Spott nur Kimon, was in der dortigen Sprache soviel wie Rindvieh heißt. Das nichtige Leben des Sohnes ging dem Vater gar sehr zu Herzen, und als er in bezug auf ihn endlich alle Hoffnung aufgegeben hatte, befahl er ihm, um den Anlaß seines Grams nicht immer vor Augen zu haben, auf das väterliche Landgut zu gehen und dort mit den Ackerknechten zu leben. Mit dieser Bestimmung war denn auch Kimon, dem die Sitten und Gebräuche der gemeinen Leute viel mehr zusagten als die feineren, ausnehmend zufrieden.

Während er nun auf dem Lande sich ausschließlich mit den Angelegenheiten der Landwirtschaft beschäftigte, ging er eines Tages bald nach Mittag, seinen Stock auf der Schulter, von einem Gehöft zum andern und durchquerte dabei ein Gehölz, das, weil es eben Mai war, ein dichtes Laubdach bildete und an jener Stelle gerade seine volle Schönheit zeigte. Hier führte ihn sein glücklicher Stern zu einer kleinen, rings von hohen Bäumen umgebenen Wiese, an deren Ende eine anmutige und kühle Quelle entsprang. Neben dieser erblickte er auf dem grünen Rasen ein reizendes junges Mädchen schlafend, dessen feines und durchscheinendes Gewand die alabasternen Glieder nur unmerklich verhüllte, während eine leichte und schneeweiße Decke vom Gürtel niederwärts über sie hingebreitet war. Zu ihren Füßen lagen zwei Mädchen und ein Mann, die in den Diensten der jungen Dame standen, und schliefen gleichfalls.

Beim Anblick dieser Schönen erstaunte Kimon nicht anders, als ob er nie zuvor ein Frauenbild gesehen hätte, und beschaute sie, sprachlos auf seinen Stab gelehnt, aufmerksam und mit unsagbarem Entzücken. Da fühlte er, wie in seiner rohen Brust, der tausendfach wiederholte Weisung nicht den mindesten Eindruck edler Neigungen hatte mitteilen können, plötzlich ein Gefühl erwachte, das seinem plumpen und ungebildeten Geiste dies Mädchen als den schönsten Gegenstand darstellte, den jemals das Auge eines Lebenden gesehen. Dann betrachtete er die einzelnen Teile ihres Körpers und bewunderte die Schönheit[393] ihrer Haare, die ihn golden deuchten, Stirne, Mund und Nase, Hals und Arme, vor allem aber den Busen, dessen Hügel sich erst mählich wölbten. Er, der soeben noch in jeder Hinsicht ein Bauer gewesen war, fällte nun schon ein Urteil über die Schönheit und verlangte sehnlichst, daß sie die Augen aufschlagen möge, die ein tiefer Schlaf noch verschlossen hielt. Mehrmals wandelte ihn die Lust an, sie zu wecken, damit er ihre Augen sähe; dann aber schien sie ihm so über allen Vergleich schöner als alle Frauen, die er je zuvor gesehen, daß er geneigt war, sie für eine Göttin zu halten, und wenigstens so viel richtiges Empfinden hatte er, daß er einsah, göttliche Dinge verdienten größere Ehrfurcht als irdische. So gewann er es denn über sich abzuwarten, bis sie von selbst aufwachte, und so lang ihm auch ihr Schlaf vorkam, wußte er sich, in das Vergnügen ihres Anschauens versunken, doch nicht loszumachen.

Endlich, obwohl nach einer geraumen Zeit, geschah es, daß die junge Schöne, die Iphigenie hieß, früher als einer der Ihrigen erwachte. Als sie nun den Kopf hob, die Augen aufschlug und Kimon, auf seinen Stab gelehnt, vor sich stehen sah, erstaunte sie nicht wenig und sagte: »Kimon, was suchst du zu dieser Stunde hier im Gehölz?« – denn sowohl wegen seiner schönen Gestalt und seiner Blödsinnigkeit als auch wegen des Adels und Reichtums seines Vaters war Kimon fast jedem in der Gegend bekannt. Er aber antwortete auf Iphigeniens Worte nicht eine Silbe, sondern blickte unverwandt in ihre Augen, sobald sie diese aufgeschlagen hatte, und glaubte eine von ihnen ausgegangene Süße zu empfinden, die ihn mit nie gekannter Wonne durchdrang. Als die Schöne sein Betragen gewahr wurde, begann sie zu fürchten, daß er infolge seiner Roheit von diesem starren Anschauen zu Dingen übergehen könnte, die ihre Schamhaftigkeit gefährdeten. Deshalb rief sie ihre Dienerinnen, erhob sich vom Boden und sagte: »Lebe wohl, Kimon.« Kimon erwiderte sogleich: »Ich gehe mit dir.« Und obgleich die junge Dame, weil sie fortwährend wegen seiner Absichten besorgt war, seine Begleitung ablehnte, konnte sie ihn doch auf keine Weise eher von sich entfernen, als bis er sie zu ihrer Wohnung geleitet hatte.

Von dort ging er sogleich zu seinem Vater und erklärte ihm,[394] unter keiner Bedingung aufs Land zurückkehren zu wollen. Freilich war dies nun dem Vater und den übrigen Angehörigen gar nicht gelegen; sie ließen ihn jedoch in der Stadt, um abzuwarten, wodurch Kimon so umgestimmt worden sei. Dieser aber, dessen jeder guten Lehre unzugängliches Herz Iphigeniens Schönheit mit dem Pfeil der Liebe durchdrungen hatte, schritt von einem guten Vorsatz immer weiter zu neuen und erregte binnen kurzem das Erstaunen seines Vaters, aller seiner Verwandten und überhaupt eines jeden, der ihn gekannt hatte. Zuerst bat er den Vater, ihn in der Gewandung und in allem andern ebenso geschmückt wie seine Brüder einhergehen zu lassen, und der Vater tat es mit Freuden. Dann suchte er den Umgang wackerer junger Leute und erforschte von ihnen, was für Sitten adeligen Männern, besonders aber den Liebenden geziemen, und lernte zu jedermanns größter Verwunderung in kurzer Zeit nicht allein die Anfangsgründe der Wissenschaften, sondern machte sich auch die Weltweisheit auf das vollkommenste zu eigen. Wie seine Liebe zu Iphigenie ihn zu dem allen geführt hatte, so verwandelte sich auch ferner seine rauhe und bäuerische Stimme in eine wohlklingende und gebildete und ließ ihn des Spiels und des Gesangs wohlerfahren und im Reiten und in den Waffenübungen zu Wasser und zu Lande geübt und tapfer werden. Kurz, um nicht alle seine Geschicklichkeiten im einzelnen aufzählen zu müssen: noch war seit dem Tage, an dem er sich zuerst verliebt hatte, das vierte Jahr nicht verstrichen, als er schon alle jungen Männer, die auf der Insel Zypern zu finden waren, an Artigkeit, guten Sitten und vorzüglichen Eigenschaften übertraf.

Wie sollen wir, o holde Damen, uns nun wohl diese Erscheinung erklären? Gewiß, wir können es nur da durch, daß wir voraussetzen, ein neidisches Geschick habe die hohen Anlagen, mit denen der Himmel Kimons Seele ausgestattet hatte, in den engsten Raum seines Herzens zusammengedrängt und dort mit den festesten Banden so lange gefesselt und verschlossen, bis der gewaltigere Amor alle jene Ketten sprengte und zerbrach, die schlummernden, von trauriger Betäubung umnachteten Lebensgeister erweckte und mit seiner Kraft ans helle Licht zog, um dadurch zu offenbaren, aus welcher Dunkelheit er die ihm[395] ergebenen Geisteskräfte durch seine Strahlen zum vollen Glanze zu führen vermöge.

Ob Kimon nun wohl nach der üblichen Art verliebter Jünglinge bei seiner Liebe zu Iphigenie in einigem das Maß überschritt, so ertrug Aristipp dergleichen nicht allein mit Geduld, sondern ermunterte ihn, in der Erwägung, daß ja die Liebe ihn vom Tier zum Menschen verwandelt hatte, auch selbst, in dieser Hinsicht ganz nach seinem Gefallen zu leben. Kimon, der im Andenken, daß Iphigenie ihn so genannt, diesen Namen behalten und nicht mehr Galesus genannt sein wollte, hielt indessen, um seine Wünsche geziemend erfüllt zu sehen, bei Iphigeniens Vater Cypseus wiederholt um die Hand des Mädchens an. Cypseus aber erwiderte, daß er sie bereits dem Pasimundas, einem jungen Edelmann von Rhodos, zugesagt habe und sein Wort nicht brechen wolle. Als nun die Zeit herangekommen war, da Iphigenie infolge dieses Versprechens vermählt werden sollte, und der Bräutigam auch schon nach ihr gesandt hatte, sagte Kimon bei sich selbst: Nun, o Iphigenie, ist es an der Zeit, zu beweisen, wie sehr ich dich liebe. Schon bin ich durch dich zum Menschen geworden. Gelingt es mir, dich zu besitzen, so werde ich dadurch ohne Zweifel glorreicher werden als einer unter den Göttern, und gewiß, besitzen werde ich dich oder sterben.

Nachdem er so zu sich selbst gesprochen, bat er in der Stille einige junge Edelleute, mit denen er befreundet war, um ihren Beistand, rüstete heimlich ein Schiff mit allem aus, was zu einem Seegefecht notwendig ist, und ging dann mit seinen Gefährten in See, um das Fahrzeug zu erwarten, auf dem Iphigenie zu ihrem Bräutigam nach Rhodos gebracht werden sollte. Der Vater des Mädchens hatte inzwischen den Freunden des Bräutigams viel Ehre angetan, und nun steuerten diese mit ausgespannten Segeln auf Rhodos zu. Kimon aber schlief nicht, sondern erreichte sie anderntags und rief ihnen von der Spitze seines Schiffes mit lauter Stimme zu: »Haltet an, streicht die Segel oder macht euch darauf gefaßt, besiegt und in den Grund gebohrt zu werden.«

Kimons Gegner hatten indes schon ihre Waffen aufs Verdeck gebracht und rüsteten sich zur Verteidigung. Kimon aber ergriff[396] nach jenen Worten sogleich einen großen eisernen Enterhaken, zog damit das Schiff der Rhodier, die aus allen Kräften weitersegelten, gewaltsam an das seine heran und sprang mit dem Mute eines Löwen, ohne daß ein anderer ihm gefolgt wäre, hinüber, als ob er die Rhodier alle für nichts achtete. Die Liebe lieh ihm Kräfte, und so stürzte er mitten unter die Feinde, ein Messer in der Hand, und schlachtete gar viele, bald hierhin, bald dorthin stoßend, gleich Schafen ab, so daß die Rhodier endlich voller Schrecken die Waffen wegwarfen und sich einstimmig als Gefangene ergaben. Kimon dagegen sagte zu ihnen: »Junge Männer, weder aus Verlangen nach Beute noch aus Haß, den ich gegen euch hegte, bin ich von Zypern gesegelt, um euch hier, mitten im Meere, mit bewaffneter Hand zu überfallen. Was mich so zu tun bewogen, dessen Eroberung ist für mich das Höchste, ihr aber könnt es mir gar leicht auch friedlich überlassen. Es ist nämlich Iphigenie, die ich über alles liebe und die mit der Waffe zu erobern Amor mich zwingt, da ihr Vater sie mir nicht als Freund im Guten überlassen wollte. So will ich ihr denn sein, was euer Pasimundas ihr werden sollte. Gebt sie mir, und dann zieht in Gottes Namen.«

Die Jünglinge überließen, mehr von der Not als vom guten Willen bewogen, dem Kimon die weinende Dame. Er aber sagte, als er sie weinen sah, zu Iphigenie: »Betrübe dich nicht, holde Dame, ich bin dein Kimon und habe dich durch meine lange Liebe mehr verdient als Pasimundas durch die Verlobung.« Ohne von dem Gut der Rhodier das mindeste anzurühren, ließ er Iphigenie in sein Schiff hinübersteigen, kehrte selbst zu seinen Gefährten zurück und hieß jene weiterziehen. Hocherfreut über den Erwerb einer so teuren Beute, verwendete Kimon die erste Zeit darauf, die Weinende, soviel er konnte, zu trösten, und überlegte dann mit seinen Gefährten, ob es nicht allzu gefährlich sein möchte, für jetzt nach Zypern zurückzukehren. Wirklich beschlossen sie gemeinschaftlich, den Lauf ihres Schiffes lieber nach Kreta zu lenken, wo sie sich insgesamt, besonders aber Kimon, wegen alter und neuer Verbindungen und vieler Freundschaften mit Iphigenien sicher glaubten.

Das Glück aber, das dem Kimon die Eroberung der Dame freundlich gewährt hatte, verwandelte jetzt in seiner Unbeständigkeit[397] die überschwengliche Freude des liebenden Jünglings plötzlich in bittere, schmerzliche Tränen. Noch waren keine vier Stunden vergangen, seit Kimon die Rhodier verlassen hatte, als mit derselben Nacht, von der er sich die höchste, nie empfundene Seligkeit versprochen hatte, ein stürmisches Wetter heraufzog, das den Himmel mit Wolken und das Meer mit verheerenden Winden aufwühlte. So sehr wütete der Sturm, daß niemand zu erkennen vermochte, was man tun und wohin man sich wenden sollte, ja daß die Schiffer sich nicht einmal aufrecht zu halten und einige Hilfe zu leisten imstande waren. Wie sehr Kimon darüber betrübt war, bedarf keiner Worte. Es dünkte ihn, die Götter hätten ihn nur ans Ziel seiner Wünsche gelangen lassen, damit er den Tod, der ihm vorher gar gleichgültig gewesen wäre, um so schmerzlicher empfinden sollte. Es beklagten sich auch die Gefährten, vor allem aber jammerte Iphigenie, weinte laut und schreckte bei jedem Wellenstoße neu zusammen. Mit harten Worten verwünschte sie unter ihren Tränen Kimons Liebe und schalt auf seine Verwegenheit. Denn nur darum, sagte sie, sei dieses stürmische Unwetter entstanden, weil die Götter, weit entfernt zu gestatten, daß Kimon, der sie wider ihren Willen zur Frau begehre, seines anmaßenden Begehrens froh würde, ihn vielmehr elendiglich umkommen lassen wollten, nachdem er sie zuvor habe sterben sehen.

Unter solchen und noch heftigeren Klagen wurde das Schiff, das die Seeleute auf keine Weise zu lenken vermochten, von dem immer heftiger tobenden Sturm in die Nähe der Insel Rhodos geführt. Da nun aber die Schiffer nicht wußten, daß es Rhodos sei, bemühten sie sich, um ihr Leben zu retten, aus allen Kräften, dort womöglich das Land zu gewinnen. In der Tat war ihnen das Glück behilflich dazu und führte sie in eine kleine Bucht, in welche kurz vorher auch die von Kimon freigelassenen Rhodier mit ihrem Schiffe eingelaufen waren. Nicht eher aber erkannten sie, daß sie nach Rhodos verschlagen worden waren, als bis sie beim Dämmerlicht, das am andern Tage das aufsteigende Morgenrot über den etwas aufgehellten Himmel verbreitete, etwa einen Bogenschuß weit entfernt das Schiff gewahr wurden, das sie am Tage zuvor verlassen hatten. Kimon, der die Gefahr drohen sah, der er nachher[398] wirklich anheimfiel, erschrak darüber unsäglich und befahl, daß alle Kräfte aufgeboten würden, um nur von dort wieder zu entkommen und sich dann treiben zu lassen, wohin es immer dem Schicksal gefallen möchte, da sie ja doch nirgendwo schlimmer aufgehoben sein konnten als eben hier.

Die Schiffer ließen nichts unversucht, um hinauszukommen; aber alles war vergeblich. Der Wind blies so heftig in der entgegengesetzten Richtung, daß sie, weit entfernt, sich aus jener kleinen Bucht herausarbeiten zu können, allen Widerstrebens ungeachtet an das Land getrieben und, kaum dort angelangt, von den rhodischen Seeleuten, die ihr Schiff inzwischen verlassen hatten, erkannt wurden. Sogleich lief einer von diesen nach einem nahegelegenen Landgut, wohin die jungen rhodischen Edelleute schon vorausgegangen waren, und berichtete ihnen, wie das Unwetter Kimon mit Iphigenie gezwungen hatte, gleich ihnen dort mit seinem Schiffe zu landen. Hocherfreut über diese Nachricht eilten die Edelleute mit einer Menge Volk von jenem Gute an das Meer, wo sie Kimon, der mit den Seinigen schon ausgestiegen war und in einen benachbarten Wald zu flüchten gedachte, mit Iphigenie und allen andern gefangennahmen und sie zusammen nach dem erwähnten Landhause führten. Als aber Pasimundas von dem Geschehenen Kunde erhalten hatte, beklagte er sich beim Senat von Rhodos, und auf dessen Beschluß kam Lysimachos, der in jenem Jahr bei den Rhodiern die höchste Würde bekleidete, mit einem großen Geleit von Kriegsmännern aus der Stadt hinaus und führte Kimon und seine Gefährten ins Gefängnis.

Auf solche Weise verlor der arme liebende Kimon seine Iphigenie, die er kurz zuvor erst gewonnen, ohne ihr mehr als einen Kuß genommen zu haben. Iphigenie dagegen wurde von vielen rhodischen Damen empfangen, die ihr Trost wegen der erlittenen Gefangenschaft und der auf dem stürmischen Meer ausgestandenen Angst zusprachen und sie bis zu dem Tage bei sich behielten, der für die Hochzeit festgesetzt worden war. Dem Kimon und seinen Gefährten wurde indes mit Rücksicht darauf, daß sie tags zuvor die jungen Rhodier freigelassen hatten, das Leben geschenkt, obwohl Pasimundas bemüht gewesen war, ihr Todesurteil zu bewirken. Freilich wurden sie dafür[399] zu ewiger Gefangenschaft verurteilt, und wie traurig, wie ohne Hoffnung, je wieder eine Freude zu erfahren, sie diese ertrugen, läßt sich leicht denken.

Während indes Pasimundas die Vorbereitungen zur bevorstehenden Hochzeit soviel wie möglich beschleunigte, bereitete das Glück, als wäre ihm das Unrecht, das es dem Kimon so plötzlich angetan hatte, wieder leid geworden, ein neues Ereignis zu seiner Rettung vor. Pasimundas hatte einen zwar an Jahren, aber nicht an Trefflichkeit geringeren Bruder, der Hormisdas hieß und sich lange Zeit um die Hand eines schönen und adeligen Mädchens jener Stadt, das Kassandra hieß und Lysimachos auf das feurigste liebte, beworben hatte; doch war die Verlobung um verschiedener Umstände willen schon mehrfach rückgängig gemacht worden. Wie nun Pasimundas das große Fest überdachte, mit dem er seine Hochzeit würde feiern müssen, hielt er es für ratsam, den Hormisdas gleichfalls heiraten zu lassen, um ähnlichen Kosten und Gastereien für die Zukunft zu entgehen. Zu diesem Zwecke nahm er die Verhandlung mit Kassandras Eltern wieder auf und führte sie so weit zum Ziele, daß am selben Tag, an dem er sich mit Iphigenie verbände, auch Hormisdas seine Hochzeit mit Kassandra feiern sollte.

Dem Lysimachos mißfiel dieser Entschluß, der ihm alle seine Hoffnungen zu rauben schien, ausnehmend, denn er hatte bisher immer gedacht, wenn Hormisdas sie nicht erhalte, werde sie ihm noch zuteil werden. Verständig aber, wie er war, verbarg er seinen Unmut und dachte vielmehr darüber nach, wie er die Ausführung jener Pläne vielleicht noch hindern könne, doch wußte er keinen möglichen Ausweg zu erkennen als den, sie zu rauben. Dies zu tun, schien ihm freilich vermöge seines Amtes besonders leicht; auf der andern Seite dünkte es ihn aber gerade wegen jener Würde desto unschicklicher. Endlich trug indes nach langem innerem Kampfe die Liebe den Sieg über die Schicklichkeit davon, und er beschloß, was immer daraus entstehen möchte, Kassandra zu rauben.

Während er noch über die Gehilfen, die er sich erwählen mußte, und über die Art der Ausführung nachdachte, erinnerte er sich des Kimon, den er mit seinen Gefährten im Gefängnis hielt, und es leuchtete ihm ein, daß er in dieser Angelegenheit[400] keinen besseren und treueren Gehilfen als eben den Kimon finden könnte. Er ließ ihn daher in der nächsten Nacht heimlich in sein Zimmer rufen und begann folgendermaßen zu ihm zu sprechen: »Kimon, wie die Götter ihre Gaben gütig und freigebig unter den Menschen verteilen, so wissen sie auch die Tugenden der Sterblichen auf das genaueste zu prüfen und würdigen alsdann diejenigen, die sie bei allen Wechselfällen des Schicksals standhaft und unerschütterlich finden, ihres höheren Wertes wegen auch der Gelegenheit, sich noch höhere Verdienste zu erwerben. Auch von deinen Tugenden haben sie gewichtigere Proben verlangt, als du innerhalb der Mauern deines väterlichen Hauses, das, wie ich hörte, an Reichtümern Überfluß hat, deren abzulegen imstande gewesen wärest. Zu Anfang haben sie dich, wie man sagt, durch die Stachel der Liebe vom unvernünftigen Tiere zum Menschen gemacht. Dann aber prüften sie, ob zuerst die Unglücksfälle und nun der plagende Kerker deinen Mut im Vergleich zu der Zeit, wo du für wenige Augenblicke deiner gewonnenen Beute froh warst, herabstimmen konnten. Bist du aber noch der, welcher du warst, so sind sie jetzt bereit, dir etwas zu schenken, wogegen alles, was sie dir bisher gewährten, verblaßt. Und was dies ist, das will ich dir jetzt sagen, damit du deine gewohnte Kraft wiedergewinnst und guten Mutes wirst. Wisse, derselbe Pasimundas, dessen höchste Freude dein Unglück ist, beschleunigt jetzt, so sehr er kann, seine Verbindung mit deiner Iphigenie, um der Beute froh zu werden, die das Glück dir erst freundlich gewährt hatte, um sie dir dann im schnellen Wechsel seiner Laune wieder wegzunehmen. Wie sehr dich das aber schmerzen muß, wenn anders du so liebst, wie ich es annehme, das empfinde ich an mir selbst; denn Hormisdas, des Pasimundas Bruder, will mir bei Kassandra, die ich über alles liebe, am selben Tage die gleiche Kränkung antun. Um nun so hartem Geschick und so schwerem Unrecht zu entgehen, hat das Glück uns, wie mir scheint, nur den einen Weg offen gelassen, den die Tapferkeit, unser Mut und unser Schwert, dir zum zweiten, mir zum ersten Raube unserer beiderseitigen Damen bahnen soll. Ist dir also deine Dame lieb – ich sage nicht deine Freiheit, denn ich vermute, daß dir ohne den Besitz Iphigeniens[401] an jener wenig gelegen ist –, so haben jetzt die Götter dein Schicksal in deine eigenen Hände gelegt, wenn du dich meinem Unternehmen anschließen willst.«

Diese Worte gaben dem Kimon seinen verlorenen Mut vollständig wieder, und er antwortete, ohne sich lange zu besinnen: »Lysimachos, wenn ich auf diesem Wege das erlangen soll, wovon du mir sprichst, so kannst du zu deinem Unternehmen weder einen mutigeren noch einen zuverlässigeren Gefährten finden. Bestimme mir also nur, was mir zu übertragen du für gut befinden wirst, und du sollst sehen, daß ich es mit mehr als natürlicher Kraft ausführen werde.« Darauf erwiderte Lysimachos: »Übermorgen werden die neuvermählten Frauen ihren ersten Einzug in das Haus ihrer Männer halten. Wir aber werden uns gegen Abend, du mit den Deinigen und ich mit einer Anzahl völlig zuverlässiger Gefährten, beiderseits bewaffnet, dort einschleichen, die beiden Bräute mitten aus dem Feste rauben und sie zu dem Schiffe führen, das ich schon heimlich habe zurüsten lassen. Jeder aber, der sich uns zu widersetzen wagt, ist des Todes.« Kimon war mit diesen Anordnungen zufrieden und kehrte bis zu der bestimmten Zeit ruhig in sein Gefängnis zurück.

Glänzend und kostbar war am Hochzeitstage das Gepränge, und überall im Hause der beiden Brüder herrschte festliche Heiterkeit. Als die Zeit nun dem Lysimachos gelegen schien, versammelte er Kimon und dessen Gefährten sowie seine eigenen Freunde, die sämtlich unter den Kleidern Waffen trugen, und teilte sie, nachdem er sie zuvor mit vielen Worten zur Unternehmung angefeuert hatte, in drei Haufen. Den einen hieß er sich vorsichtig im Hafen aufstellen, damit niemand, wenn es erst so weit gekommen wäre, sie am Besteigen des Schiffes hindern könnte. Den zweiten ließ er an der Haustür, um sicher zu sein, daß sie nicht etwa eingeschlossen würden oder man ihnen den Eingang verwehrte. Er selbst endlich ging mit Kimon und den übrigen die Treppe hinauf, geradenwegs in den Speisesaal, wo sich die beiden Bräute mit noch vielen anderen Damen schon in geziemender Ordnung zu Tisch gesetzt hatten. Keck traten die jungen Männer heran, stürzten die Tische um, nahmen ein jeder die Seinige und übergaben sie den[402] Armen ihrer Gefährten, damit diese sie augenblicklich auf das segelfertige Schiff brächten. Die beiden Bräute begannen zwar zu weinen und zu schreien und die übrigen Damen und die Diener nicht minder, so daß das ganze Haus alsbald von Lärm und Klagen erfüllt war. Kimon und Lysimachos aber zogen ihre Schwerter und bahnten sich, ohne daß jemand ihnen zu widerstehen gewagt hätte, den Weg zur Treppe. Als sie diese nun hinunterstiegen, begegnete ihnen Pasimundas, der auf den Lärm hin mit einem großen Knüppel bewaffnet herbeigeeilt war. Kimon traf ihn indes mit seinem Schwert so gewaltig auf den Kopf, daß er ihn wohl halb herunterhieb und Pasimundas ihm tot zu Füßen fiel. Ebenso tötete den armen Hormisdas, der seinem Bruder zur Hilfe eilte, ein zweiter Hieb des Kimon, und noch mehrere andere, die herbeispringen wollten, wurden von Lysimachos' und Kimons Gefährten siegreich zurückgeschlagen. Diese aber gelangten von dem Hause, das sie voll Blut, Geschrei, Wehklagen und Trauer hinter sich ließen, dicht zusammengedrängt und ohne auf ein Hindernis zu stoßen, mit ihrer Beute glücklich zu dem Schiffe, hießen ihre Damen schnell hineinsteigen, folgten ihnen selbst mit all den Ihrigen nach und ruderten dann mit allen Kräften glücklich ihren Hoffnungen entgegen, im Angesicht zahlreicher Bewaffneter, die sich schon am Ufer versammelt hatten, um die Damen zu befreien.

In Kreta, wo sie von ihren vielen Freunden und Verwandten aufs beste empfangen wurden, feierten sie schnell unter großen Festlichkeiten die Verbindung mit ihren beiderseitigen Damen und erfreuten sich dann herzlich ihrer schönen Beute. In Zypern und in Rhodos wurde noch lange Zeit viel Lärm über diese kecke Tat gemacht, und an beiden Orten waren ernstliche Unruhen die Folge. Endlich aber legten sich hier wie dort die beiderseitigen Freunde und Verwandten ins Mittel und brachten es glücklich dahin, daß nach einigen Jahren des Exils Kimon sowohl mit Iphigenie nach Zypern als auch Lysimachos mit Kassandra nach Rhodos zurückkehren durfte, wo dann beide Paare noch lange glücklich miteinander in ihrer Heimat lebten.

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 392-403.
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