4. Der Geschmack

[638] 99.

Da wir dieses Sinnes Gaben

Auch betrachtet, werden wir

Den Geschmack zu prüfen haben,

Drin ich neue Wunder spür,

Die nichts minder sind, wie jene:

Denn der Mund, die Zung' und Zähne,

Gaum und Lippen, Kehl' und Schlund

Machen seltne Sachen kund.


100.

In der regen Zunge stecket

Eine Kraft, so wunderbar,

Weil sie fühlet, redet, schmecket,

Rauh und glatt ist, ja so gar

Sich auf tausend Arten reget,

Sauget, lecket, Speichel heget.

GOTT hat sie, wie man es spührt,

Recht verwunderlich formirt.


101.

Auswärts trifft man mit Ergetzen

Kleine spitz'ge Wärtzchen an,

Welche sich im Speichel netzen,

Der durch sie leicht schaumen kann.

Wenn nun die, sich zu erfrischen,

Speisen mit dem Speichel mischen,

Fühlt die Seel' es gar geschwind,

Weil es lauter Nervchen sind.
[639]

102.

Der zerkäuten Speise Theile

Sind theils glatt, gelind' und rund,

Theils recht spitz, wie kleine Pfeile,

Wodurch, wann sie Zung' und Mund

Mit verschied'ner Schärfe rühren,

Wir was saur- und herbes spühren,

Da, was rund, was weich und leicht,

Uns hingegen süsse deucht.


103.

Ungeschmackt sind alle Sachen,

Die zu flüssig und zu fest,

Weil sie keinen Eindruck machen,

Da sich dieß nicht lösen lässt,

Und das Feuchte kein Bewegen

In den Nerven kann erregen;

Aber Saltz schmeckt allen wohl,

Weil es zarter Spitzen voll.


104.

Daß die innerlichen Flammen

Uns nicht tödten vor der Zeit,

Zieht sich in dem Mund zusammen

Eine laue Feuchtigkeit,

Welche diese Hitze lindert,

Und die heisse Brunst vermindert,

Daß des Menschen flüssigs Blut

Nicht gerinne von der Gluht.
[640]

105.

In des Mundes Purpur-Höle,

Die das Paar der Lippen schliesst,

Zeiget sich die kluge Seele,

Die in süssen Worten fliesst,

Und in diesen engen Schrancken

Nehmen geistige Gedancken,

Wenn wir reden, Cörper an;

Daß man sie begreifen kann.


106.

Wer erstaunt nicht, wenn er dencket,

Wie der Zunge Fertigkeit

Sich auf tausend Arten lencket,

Der Gedancken Unterscheid

Wunderwürdig zu formiren,

Daß von andern auch zu spühren,

Wie, was hier der Geist gedacht,

Cörperlich wird kund gemacht?


107.

Glied, das uns durch sein Erzählen

Fremde Geister einverleibt,

Rege Feder unsrer Seelen,

Die mit lauten Schriften schreibt,

Der Gedancken Zaum und Riegel,

Wunder-Pinsel, Göttlichs Siegel,

Das, was unsre Seele hegt,

Andern in die Seele prägt!
[641]

108.

Merckt, wie sie so wohl zum Regen

Als geschickt zum Sprechen sey:

Wenn zehn Muskeln sie bewegen,

Deren immer zwey und zwey

Hinter, vor, zu beyden Seiten,

Auf- und niederwärts sie leiten,

Lässt ein angewachsner Zaum

Ihr nicht gar zu weiten Raum.


109.

Dieses Glied recht zu bewahren,

Hat es die Natur versehn,

Daß stets, wie geharn'schte Schaaren

Rings um sie die Zähne stehn.

Diese kleine Marmor-Klippen

Decken wiederum die Lippen,

Unter deren Schutz und Hut

Unsre Zung' auf Polstern ruht.


110.

An der Zung' ist noch zu preisen,

Daß derselben rege Kraft

Uns in so viel tausend Speisen

Tausendfache Lust verschafft.

Sie kann durch ihr forschend Schmecken

Solch Vergnügen uns erwecken,

Daß so gar der Geist verspührt,

Wie ein süsser Trieb ihn rührt.
[642]

111.

Guter Wein ist säurlich-süsse;

Herb' ist jed' unreife Frucht;

Bitter, wenn ich sie geniesse,

Und auch süß des Oel-Baums Zucht;

Saur sind Saurampf und Citronen;

Süß hingegen sind Melonen,

Honig, Zucker, Milch und Most.

Marck und Oel sind fette Kost.


112.

Wo uns eine Sach' auf Erden

Unsers Schöpfers Liebe weist,

Ist es, da verbunden werden

(Wenn sich unser Cörper speis't)

Mit der Noth so süsse Lüste.

Wenn man eckelnd speisen müste;

Würd' es, wie wir gern gestehn,

Nie zu rechter Zeit geschehn.


113.

Was die unverdrossnen Bienen

Und was der verbrannte Mohr

Ziehn aus Rosen und Jesminen

Und Maderens Zucker-Rohr,

Alle Süssigkeit der Reben

Wär' der Welt umsonst gegeben,

Schmeckte nicht der Zungen Kraft

Jedes Dinges Eigenschaft.
[643]

114.

Mensch, erwege doch und mercke,

Wenn dein Mund was gutes schmeckt,

Deines Schöpfers Wunder-Wercke!

Was darin für Weisheit steckt,

Ist nicht leichtlich zu ermessen,

Da Er nicht nur in das Essen,

Und in alles, was uns tränckt,

So verschied'nen Saft gesenckt;


115.

Sondern auch in deinem Munde

Gaum und Zunge so gemacht,

Daß, recht eben in dem Schlunde,

Wenn man es genau betracht't,

Eben wenn mans nieder schlinget;

Uns die Speis' erst Anmuth bringet.

Ist demnach, mehr als man meynt,

Nahrung, Nutz und Lust vereint.


116.

Dencke doch, wenn Schmertz und Fieber

Uns in Blut und Adern steckt,

Wie erbärmlich uns darüber,

Was man isst und trincket, schmeckt!

Muß der Eckel vor den Speisen

Uns nicht augenscheinlich weisen,

Daß man nie sein Glück ermisst,

Wenn uns schmecket, was man isst?
[644]

117.

Ew'ge LIEBE, sey gepriesen!

Dir sey Ehre, Lob und Danck!

Da du solche Huld gewiesen

Im Geschmack, in Speis' und Tranck!

Gib, daß wir, so oft wir essen,

Deine Wunder-Kraft ermessen,

Die uns nicht nur Kost beschehrt,

Sondern auch mit Lust uns nährt.


118.

Sprich, verwildertes Gemüthe,

Kommt die Zung' auch ungefehr,

Oder aus der Macht und Güte

Eines weisen Wesens her?

Sprich: Verdienen solche Wercke

Nicht so viel, daß man sie mercke?

Wers Geschöpfe nicht betracht't,

Schändet seines Schöpfers Macht.


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 638-645.
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