Zehntes Kapitel.

[122] Einen Monat lang hielt seine erneute Liebe nun schon an, und wir hatten während dieser Zeit ein ganz neues Leben zusammen geführt, das bis zu unserem Tode hätte andauern können, wenn es mir nur möglich gewesen wäre, mich zu demselben zu verstehen.

Eines Abends saßen wir unter einer kleinen Laube, die am Eingange unseres Gartens stand. Er war in angenehmster, munterster Stimmung und sagte mir tausend liebenswürdige Dinge, die sich auf unser früheres Mißverständnis und unsere jetzige neue Eintracht bezogen, und wiederholte immer wieder, wie glücklich er sei, daß wir nun hoffen dürften, alle Mißhelligkeiten auf immer begraben zu haben.

Ich seufzte tief auf und sagte ihm, kein Mensch in der Welt würde froher sein als ich, wenn unsere[123] Einmütigkeit unverletzt von jetzt ab weiter bestehen könne, kein Mensch habe unter unseren Zwistigkeiten mehr gelitten als ich, doch müsse ich ihm nun endlich mitteilen, daß sich ein unglückseliger Zufall in unser Leben geschlichen, der mir das Herz abdrücke und mich so elend mache, daß meine Ruhe und mein Frieden auf immer dahin seien.

Er bedrängte mich, ihm doch endlich zu sagen, worin dieser Zufall bestehe. Ich antwortete, es sei mir unmöglich, ihn zu enthüllen. Solange ich schweige, sei ich allein unglücklich, sobald er ihn kenne, sei auch sein Glück verloren. Die unglückseligen Verhältnisse vor ihm geheim zu halten, sei ein Gebot meiner Zuneigung zu ihm, obwohl ich selbst darunter früher oder später zu Grunde gehen müsse.

Es ist ganz unmöglich, seine Überraschung zu schildern und die Heftigkeit, mit der er nun weiter in mich drang. Er sagte, kein Mensch könne es Liebe nennen, wenn eine Frau ihrem Gatten ein so wichtiges Geheimnis vorenthalte und in einem solch schlimmen Falle, um den es sich doch zu handeln scheine, nicht aufrichtig sei. Ich antwortete, ich wisse dies sehr wohl, und doch könne ich nicht reden. Er kam nun auf das zurück, was ich ihm früher schon einmal gesagt hatte, und meinte, diese Angelegenheit habe doch hoffentlich keine Beziehung zu den Worten, die ich ihm damals in der Aufregung zugerufen, und die er sich, als unüberlegt und im blinden Zorn gesprochen, zu vergessen bemüht habe. Ich antwortete ihm, ich wünsche, auch ich könne alles vergessen, doch das Unmögliche, die Erkenntnis der Wahrheit habe mich zu sehr angegriffen.

Darauf entgegnete er mir, er wolle nun nicht weiter mehr in mich dringen, sondern sich in Alles finden, was ich sage oder tue, nur bitte er mich, nicht zuzulassen, daß dies Geheimnis je wieder unsere gegenseitige Liebe und Zärtlichkeit ungünstig beeinflusse.

Diese Worte kamen mir so ungelegen wie nur[124] möglich, denn ich hatte auf sein weiteres Drängen gehofft, das mir endlich Gelegenheit geben sollte, mich meines Geheimnisses, das ich unlieber als den Tod selbst bei mir beherbergte, zu entledigen. So antwortete ich ihm denn klar und deutlich, ich könne nicht behaupten, daß mich die Aussicht, über die Wendung unser beider Leben schweigen zu müssen, erfreue, obgleich ich auch nicht wisse, wie ich von ihr reden solle.

»Doch höre, mein Lieber,« sagte ich endlich, »welche Bedingungen darf ich stellen, wenn ich dir die ganze Sache mitteile?«

»Jede, die vernünftig ist,« entgegnete er.

»Nun,« sagte ich, »so versprich mir in die Hand, daß du mich nach der Entdeckung des Unheils, in dem wir leben, nicht übel behandeln, nicht kränken, noch mich sonstwie unter den Umständen leiden läßt, wofern du findest, daß ich wenigstens keine Schuld an der fürchterlichen Verwirrung trage.«

»Das ist die vernünftigste Bedingung der Welt,« antwortete er, »dich nicht für das zu tadeln, was du nicht verschuldet hast. Geh, hole mir Feder und Tinte.«

Ich tat es und schrieb die Bedingung mit denselben Worten auf, mit denen ich sie ausgesprochen, und er unterzeichnete sie mit seinem Namen.

»Und nun, meine Liebe,« sagte er, »was kommt nun?«

»Nun kommt dein Versprechen, mich nicht zu tadeln, daß ich dir die Wahrheit nicht gestanden habe, ehe ich selbst sie wußte.«

»Sehr gut,« entgegnete er, schrieb auch diese Bedingung nieder und unterzeichnete sie.

»Jetzt habe ich nur noch eine Bedingung zu stellen, und die ist, niemandem auf der Welt, der Mutter ausgenommen, von dem, was ich dir sagen werde, und was nur uns beide angeht, Kenntnis zu geben und daß du dich bei den Maßnahmen, die du nach der Entdeckung treffen wirst, nicht von der Leidenschaft hinreißen läßt, irgend etwas zu meinem oder der Mutter Nachteil und überhaupt[125] keine einschneidenden Veränderungen ohne mein Vorwissen zu unternehmen!«

Diese Worte setzten ihn ein wenig in Erstaunen, er schrieb sie besonders deutlich auf, las sie ein paar mal durch und unterzeichnete sie dann nach mehrmaligem Zögern. Dabei wiederholte er sich: »Zum Nachteil der Mutter? Zu deinem Nachteil? Was mag Seltsames dahinterstecken?« Jedoch, wie gesagt, er unterzeichnete.

»Gut, mein Lieber,« sprach ich weiter, »sonst habe ich nichts von dir zu verlangen, doch da du das Unerwartetste und Überraschendste hören wirst, das sich je in einer Familie ereignet hat, bitte ich dich, mir zu versprechen, die Nachricht mit all der Ruhe und Geistesgegenwart aufzunehmen, die einem besonnenen Manne zukommt.«

»Ich will es versuchen, gewiß!« sagte er, »nur bitte ich dich, mich nicht länger zu foltern, denn alle diese Vorreden erschrecken mich aufs äußerste.«

»Also,« sagte ich, »die Sache ist die: was ich dir damals in der Hitze mitteilte, daß ich nicht deine rechtmäßige Gattin und unsere Kinder keine ordentlichen Kinder seien, kann ich heute nur wiederholen – und mit viel Ruhe, Güte und Betrübnis hinzufügen, daß ich deine eigene Schwester bin, und du mein eigener Bruder, daß wir die Kinder unserer noch lebenden Mutter sind, die durch untrügliche Beweise von der Wahrheit meiner Behauptung überzeugt ist.«

Ich sah, wie er bleich wurde und erst wild um sich schaute, und sagte deshalb schnell, er möge sich an sein Versprechen erinnern und alle Geistesgegenwart zusammen nehmen. Ich hatte alles getan, um ihn langsam vorzubereiten, trotzdem rief ich eine Dienstmagd und ließ ihm ein Glas Rum bringen, denn er lag jetzt halb ohnmächtig in seinem Stuhl.

Als er sich ein wenig erholt hatte, fuhr ich fort: »Die Geschichte verlangt natürlich viel Erklärungen; fasse dich deshalb in Geduld, wenn du sie zu Ende hören willst, ich werde mein Möglichstes tun, um[126] mich kurz zu fassen.« Und nun teilte ich ihm alles Nötige mit, ganz besonders, wie meine Mutter dazu gekommen, mir unwillkürlich die Wahrheit zu entdecken. »Und nun, mein Lieber,« schloß ich, »wirst du den Grund wohl einsehen, weshalb ich dich das da unterschreiben ließ, und daß ich weder die Ursache des Unglücks bin, noch etwas von ihm wissen konnte, ehe ich hierher kam.«

»Das ist wohl wahr ...,« antwortete er, »doch das ist ja unerhört! Das ist ja schrecklich, was ich da gehört habe! Immerhin, ich glaube, ich weiß einen Ausweg, der allen Schwierigkeiten ein Ende macht, ohne daß du nach England zurückkehren mußt.«

»Das müßte sonderbar sein, wie die ganze Geschichte,« sagte ich.

»Nein,« antwortete er mit einem unheimlichen Ausdruck, »es ist ganz einfach und betrifft niemanden, als mich allein.«

Ich verstand sofort, was er meinte. Und er sah auch so verstört aus, als er dies sagte, doch fürchtete ich eigentlich nichts für ihn, da man ja gewöhnlich sagt, daß jemand, der von Selbstmord spricht, es nie tut, und andererseits jemand, der es tut, nie davon spricht.

Immerhin schien er der Sachlage nicht gewachsen zu sein, denn ich bemerkte gleich schon vom nächsten Tage ab, daß er in Melancholie verfiel, ja ich glaubte zuweilen, sein Verstand habe gelitten. Ich bemühte mich, ihn zu einer Einsicht zu bringen und zu einer ruhigen Betrachtung unserer Verhältnisse zu bewegen. Zuweilen schien es auch, als fasse er Mut und versuche die Dinge mit Ruhe anzusehen, doch war der Schlag zu heftig für ihn gewesen, und er machte wirklich zwei Selbstmordversuche. Einmal hätte er sich ganz gewiß erhängt, wenn die Mutter nicht im letzten Augenblicke in sein Zimmer getreten wäre; unter dem Beistand eines Negersklaven schnitt sie ihn jedoch ab und brachte ihn wieder zu sich.

Die Verhältnisse wurden nun immer beklagenswerter. Mein Mitleid erwärmte die Zuneigung[127] wieder, die ich ganz im Anfang zu ihm empfunden, und ich bemühte mich, durch ein liebevolles Wesen ihm unsere Trennung, die ja doch bevor stand, weniger fühlbar zu machen. Doch hatte es ihn zu tief getroffen und wirkte so in ihm nach, daß er in Schwindsucht verfiel. Ich wußte in meiner Not nicht, was zu tun sei; da es offenbar mit ihm zu Ende ging, wäre es klug von mir gewesen, im Lande zu bleiben, wo ich mich sehr leicht wieder günstig verheiraten konnte. Doch hatte auch ich keine Ruhe und keine Rast mehr und trachtete nur darnach, wieder nach England zurückzukommen, sonst wünschte ich nichts mehr auf der Welt.

Durch unablässiges Bitten ließ sich mein Gatte, der dahinsiechende, endlich bestimmen, mich ziehen zu lassen; der Weg ebnete sich ein wenig vor mir, und mit Hilfe meiner Mutter erlangte ich auch eine gute Ladung, als Vermögen, das ich mit nach England nehmen durfte.

Als ich von meinem Bruder – so muß ich ihn ja jetzt nennen – Abschied nahm, kamen wir überein, er solle nach meiner Ankunft in England behaupten, er habe Nachricht erhalten, ich sei gestorben, worauf er sich wieder verheiraten könne, wenn er wolle; er versprach es und gab mir dafür sein Wort, als Bruder mit mir zu korrespondieren, und so lange ich lebe, mir beizustehen und mich zu unterstützen; wenn er vor mir sterbe, werde er der Mutter genug hinterlassen, daß diese noch in seinem Namen für mich sorgen könne. Leider waren seine näheren Bestimmungen so sonderbar gefaßt, daß ich, wie Sie später hören werden, die Nachteile davon spüren mußte.

Ich verließ das Land nach achtjährigem Aufenthalt im Monat August. Und damit begann für mich eine solche Kette von Unglück und Widerwärtigkeit, wie sie wohl nur wenig Frauen in ihrem Leben kennen gelernt haben.

Quelle:
Daniel De Foe: Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders. Berlin [1903]., S. 122-128.
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