Dreißigstes Kapitel.

[408] Mit schönem Ostwinde segelten wir in den ersten Tagen des April endlich ab und landeten nicht mehr, bis uns ein scharfer Sturm an die Küste von Irland trieb. In einer kleinen Bucht, in die ein Fluß mündete, dessen Namen ich jedoch vergessen, warfen wir Anker. Da uns nun das schlechte Wetter hier eine Zeitlang aufhielt, gingen wir wieder mit dem Kapitän, dessen Liebenswürdigkeit fortdauerte, an Land. Er forderte uns diesmal aus Freundschaft für meinen Gatten dazu auf, da dieser die See, besonders bei schlechtem Wetter, nicht vertragen konnte. An Land kauften wir wieder frische Vorräte ein, Rindfleisch, Schweinefleisch, Hammelfleisch und Geflügel; während der Kapitän sich fünf oder sechs Fäßchen Rindfleisch einpökeln ließ, um den allgemeinen Vorrat zu vergrößern.

Wir blieben hier jedoch nicht länger als fünf Tage vor Anker, denn dann wurde das Wetter wieder milde; und unbesorgt konnten wir unsere Reise fortsetzen.[409]

Nach zweiundvierzig Tagen erreichten wir darauf sicher und wohlbehalten die Küste von Virginia.

Als wir uns ihr näherten, rief mich der Kapitän zu sich und sagte, er habe aus meinen Reden entnommen, daß ich Verwandte in den Kolonien besitze, und auch selbst früher drüben gewesen sei. Er dürfe also wohl annehmen, daß ich wisse, wie man mit den Sträflingen verfahren werde, sobald man ankomme.

Ich antwortete ihm, ich wisse es nicht; und was meine Verwandten angehe, so hätte ich nicht vor, mich ihnen zu erkennen zu geben – was er in meiner Lage wohl verstehen könne. Wir seien also ganz auf ihn angewiesen und auf den guten Rat und Beistand, den er uns liebenswürdig angeboten.

Er antwortete darauf, ich müsse vor allen Dingen jemanden suchen, der mich zum Schein als Dienstboten kaufe und dem Gouverneur des Landes gegenüber die Verantwortung für mich übernehme.

Ich antwortete, wir würden alles tun, was er uns anrate.

Darauf ging der Kapitän und kam alsbald mit einem Pflanzer wieder, der mit mir über mein Dienstverhältnis so verhandelte, wie es der Kapitän angedeutet, und mich zum Schein kaufte; worauf ich mich mit ihm an Land begab.

Der Kapitän ging mit uns und brachte mich zunächst in eine Kneipe, während der Pflanzer noch einen Gang tun wollte. In der Kneipe machten wir, der Kapitän, mein Gatte und ich, uns ein feines Gebräu und waren lustig und guter Dinge. Nach einiger Zeit erschien dann auch der Pflanzer wieder, und zwar gleich mit einer Bescheinigung, daß ich ihm fünf Jahre lang treu gedient habe; und so konnte ich denn schon am folgenden Morgen gehen, wohin ich wollte. Für diesen Dienst verlangte der Kapitän sechstausend Pfund Tabak, die wir auch sofort für ihn kauften. Außerdem machten wir ihm ein Geschenk von zwanzig Guineen, mit dem er außerordentlich zufrieden war.

Es ist nicht angebracht, hier näher darauf einzugehen,[410] in welchem Teil von Virginia wir uns niederließen. Es mag genügen, wenn ich erwähne, daß wir den großen Potomack-Fluß hinauffuhren. Dort wollten wir uns zuerst ankaufen, doch änderten wir später diese Absicht.

Das erste, was ich tat, nachdem ich unsere Güter an Land gebracht und in ein Vorratshaus geschafft hatte, welches wir zugleich mit einer Wohnung in einem Dorfe gemietet, war, daß ich mich nach meiner Mutter und meinem Bruder erkundigte – dem Unglückseligen, den ich, wie ich erzählt habe, geheiratet hatte und dessen Gattin ich jahrelang gewesen war. Ich erfuhr mit leichter Mühe, daß meine Mutter gestorben sei, daß aber mein Bruder oder mein Gatte, wie man ihn nennen will, noch lebe; freilich wohne er nicht mehr auf der Plantage, auf der ich mit ihm gelebt, sondern er bewirtschafte zusammen mit einem seiner Söhne, gerade an unserm Landungsort eine Besitzung. Ich war sehr überrascht, als ich dies hörte, doch nicht eigentlich beunruhigt, denn ich mußte mir sagen, daß er mich nicht wiedererkennen würde. Immerhin wollte ich ihn gerne einmal sehen, ohne daß er mich sah.

Ich nahm deshalb einmal eine Frau aus dem Lande, die ich zu meiner Hilfe und Aufwartung gemietet hatte, mit mir und begab mich mit ihr in die Nähe der Besitzung meines Gatten. Dort strichen wir umher, und ich tat, als wolle ich mir die Gegend besehen. Ich fragte die Frau harmlos, wem das Haus, an das wir nun nahe herangekommen waren, eigentlich gehöre; und sie antwortete mir, es sei das Eigentum des Herrn Soundso. Und im selben Augenblick rief sie dabei aus und wies zur Rechten: »Da kommt er auch schon mit seinem Vater!«

»Wie heißen sie denn mit dem Vornamen?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, wie der alte Herr heißt,« antwortete sie, »der junge heißt Humphry; und ich glaube, daß der Vater denselben Namen trägt.«[411]

Sie können sich denken, welch sonderbares Gefühl von Freude und Schreck mich nun erfaßte, als ich an dem Vornamen erkannte, daß dieser junge Mann kein anderer war als mein eigener Sohn. Ich zog meine Kopfhülle so tief herunter, daß ich annehmen konnte, der Vater werde mich nach zwanzigjähriger Abwesenheit, und weil er mich in diesem Teile der Welt doch nimmer vermutete, gewiß nicht wiedererkennen. Doch war die Vorsicht überhaupt unnötig, denn er war durch irgend eine Krankheit, die ihm auf die Augen geschlagen, fast erblindet und vermochte nur noch gerade so viel zu sehen, um bei Tage ausgehen zu können, ohne sich an einen Baum zu stoßen, oder in einen Tümpel zu fallen.

Als sie näher kamen, fragte ich: »Kennt der Herr Sie, Mrs. Owen?«

»Gewiß,« antwortete sie, »wenn er mich sprechen hört, wird er mich wohl erkennen. Doch sieht er nicht gut genug, um irgend jemanden, auch einen noch so guten Bekannten, wiederzuerkennen.«

Ich warf darauf meine Kopfhülle wieder empor und ließ die beiden Herren vorübergehen.

Es war ein schlimmes Ding für eine Mutter, ihren eigenen Sohn, einen schönen und stattlichen jungen Herrn, in so blühenden Verhältnissen an sich vorüberspazieren zu sehen, ohne sich ihm erkennen geben zu dürfen. Möge jede Mutter, die dieses liest, sich einmal vorstellen, mit welcher Seelenangst ich fürchtete, ich werde nicht anders können, ich werde auf ihn zugehen und ihn umarmen müssen! Ach, und wie mich danach verlangte, ihn beim Namen zu nennen! und wie heftig sich meine Tränen hervordrängten! Ja, ich dachte, mein Eingeweide brenne und mein Herz wende sich um. Mit Worten, das fühle ich, kann ich diese Empfindungen gar nicht beschreiben.

Als mein Sohn vorüber war, stand ich noch lange zitternd da und schaute ihm nach. Dann ließ ich mich an einer Stelle, die ich mir gemerkt hatte, und wo er gegangen war, ins Gras nieder,[412] tat, als wolle ich mich ausruhen, wandte das Gesicht von meiner Begleiterin ab und weinte und küßte den Boden, den sein Fuß soeben berührt hatte.

Ich konnte meine Bewegung aber doch nicht so verbergen, daß die Frau sie nicht bemerkt hätte. Sie dachte jedoch, ich fühle mich nicht wohl, und ich ließ sie bei dem Glauben. Und sie drängte mich, aufzustehen, denn der Boden sei feucht und gefährlich. Ich folgte ihr, und wir begaben uns auf den Heimweg.

Unterwegs sprach ich noch immer von diesem Herrn und seinem Sohne, und ein neuer Grund, traurig zu sein, tat sich auf. Die Frau begann nämlich die Geschichte der beiden zu erzählen, offenbar, weil sie mich zerstreuen wollte: »Man weiß in der Heimat dieser Herren sonderbare Geschichten über die Familie,« sagte sie.

»Was für Geschichten?« fragte ich.

»Der alte Herr,« fuhr sie fort, »ging in seiner Jugend nach England und verliebte sich da in eine junge Dame, eine der schönsten Frauen, die man hier je gesehen hat, heiratete sie und brachte sie zu seiner Mutter herüber, die damals noch lebte. Das junge Paar lebte nun mehrere Jahre zusammen und hatte auch Kinder, der junge Herr, den Sie eben gesehen, ist eins derselben. Als aber nach einiger Zeit die alte Dame ihrer Schwiegertochter etwas von den Verhältnissen erzählte, unter denen sie früher in London gelebt, wurde diese sehr unruhig und aufgeregt und stellte, kurz gesagt, Nachforschungen an; und dabei soll herausgekommen sein, daß die alte Dame – ihre leibhaftige Mutter, und daß also deren Sohn, ihr Gatte, ihr leibhaftiger Bruder war. Diese Entdeckung erfüllte die ganze Familie mit Entsetzen und hätte fast alle zugrunde gerichtet. Die junge Frau wollte nicht länger mit ihnen zusammenleben, der Gatte, ihr Bruder, wurde für eine Zeitlang ganz irr; und zum Schluß ging die junge Frau allein wieder nach England zurück, und man hat nie wieder etwas von ihr gehört.«

Sie werden mir glauben, wenn ich sage, daß[413] mich diese Geschichte aufs tiefste erregte, doch ist es mir ganz unmöglich, die Art meiner Erregung zu beschreiben. Ich tat äußerlich so, als setze mich die Erzählung in die höchste Verwunderung, und stellte tausend Fragen nach den Einzelheiten, mit denen sie sehr gut vertraut war. Zum Schluß erkundigte ich mich nach den näheren Lebensverhältnissen der beteiligten Personen, fragte, wann die alte Dame, die Mutter, gestorben sei, und wie sie ihre Güter unter die Kinder verteilt habe. Denn meine Mutter hatte mir sehr feierlich versprochen, wenn sie zum Sterben käme, wollte sie etwas für mich tun und ihren letzten Willen so abfassen, daß mir, wenn ich noch lebte, irgend etwas zugute kommen sollte, ohne daß ihr Sohn, mein Gatte, es verhindern könnte.

Die Frau erzählte mir nun, sie wisse nicht genau, wie alles angeordnet worden sei, man habe ihr jedoch erzählt, daß meine Mutter eine Summe Geldes hinterlassen, die ihrer Tochter zukommen sollte, sobald man etwas von ihr hörte, ob sie nun in England sei oder sonstwo; derselbe Sohn, den wir eben mit dem Alten gesehen, habe sie zur Aufbewahrung übernommen.

Diese Nachricht war zu günstig, um leicht genommen zu werden; und Sie können versichert sein, sie füllten mein Herz mit tausend Gedanken, so daß ich darüber grübelte und sann, wie ich es anstellen sollte, um mich zu erkennen zu geben, und ob ich es überhaupt tun sollte oder nicht.

Ich befand mich jetzt in einem Dilemma, aus dem herauszukommen mir nicht so bald glücken sollte. Die Gedanken drückten in der Folgezeit Tag und Nacht auf mein Gemüt. Ich konnte weder schlafen noch reden, so daß mein Gatte meinen Zustand bald bemerkte, sich verwunderte und sich und mich fragte, was mir wohl so nahegehen könne. Er suchte mich zu zerstreuen, aber nichts hatte Erfolg. Dann drängte er mich, ihm doch zu sagen, was mich denn so beunruhige, doch wies ich die Fragen zurück; da er mich je doch zum Schlusz immer dringender um Mitteilung bat, war ich gezwungen,[414] eine Geschichte zu erfinden, der immerhin einige Wahrheit zugrunde lag.

Und so erzählte ich ihm denn, ich sei in Sorgen, weil wir unseren Wohnort verlassen und unseren Niederlassungsplan verändern müßten, denn ich fürchte, wiedererkannt zu werden, wenn ich noch länger in diesem Teile des Landes bliebe; seitdem meine Mutter gestorben sei, wären mehrere Verwandte und Bekannte gerade in den Teil des Landes gezogen, in dem wir uns niederlassen wollten, ich müsse mich ihnen also entweder zu erkennen geben, was unter den gegenwärtigen Umständen gar nicht anzuraten sei, oder mich in einen anderen Teil des Landes begeben; und ich wisse nicht, wie ich das letztere anfangen solle ... und deshalb sei ich so niedergeschlagen.

Er gab mir Recht, daß es in keiner Weise angebracht sei, mich in den Verhältnissen, in denen wir uns befanden, irgend jemandem zu erkennen zu geben, und erklärte sich deshalb gerne bereit, sich in irgend einen anderen Teil des Landes, ja, wenn ich es für nötig halte, in ein anderes Land überhaupt zu begeben.

Nun stellte sich aber eine neue Schwierigkeit für mich heraus. Wenn wir in eine andere Kolonie übersiedelten, machte ich es mir eigentlich ganz unmöglich, Nachforschungen nach der Hinterlassenschaft meiner Mutter anzustellen, ohne daß mein neuer Gatte es erfuhr; anderseits konnte ich ihm aber doch das Geheimnis meiner früheren Verheiratung nicht offenbaren; die Geschichte mit meinem Bruder ließ sich nicht erzählen, auch war nicht abzusehen, welche Folgen ihre Kundmachung haben konnte. Es war auch ganz unmöglich, von dieser Sache mit anderen zu reden, ohne dem ganzen Land bekannt zu geben, wer ich war und was ich war.

Diese Verlegenheit dauerte eine große Weile und brachte meinen Gatten in rechte Unruhe, denn er glaubte, ich sei nicht offenherzig und lasse ihn nicht meinen ganzen Kummer wissen. Oft sagte[415] er, er frage sich, was er mir getan, daß ich kein Vertrauen zu ihm hätte. Und man hätte ihm wirklich alles anvertrauen können, denn kein Mann hat je mehr Zutrauen von seiner Frau verdient, als dieser. Diese Angelegenheit aber ließ sich ihm einfach nicht mitteilen, und da ich nun auch sonst niemanden hatte, mit dem ich davon reden konnte, wurde die Bürde zu schwer für mich.

Mögen die Leute sagen, was sie immer sagen, daß unser Geschlecht kein Geheimnis bewahren kann – mein ganzes Leben ist ein Beweis für das Gegenteil. Aber ob es sich nun um einen Mann oder um eine Frau handelt, ein Geheimnis sollte immer einen Vertrauten haben, einen Busenfreund, dem wir die Freude oder den Kummer, den es birgt, mitteilen, sonst wird es mit doppelter Last den Geist bedrücken und vielleicht unerträglich werden. Die Äußerungen vieler Menschen, die ich im Leben gehört, schienen mir ein Beweis für die Wahrheit dieser Behauptung.

Und das ist wohl auch die Ursache, weshalb Männer sowohl wie Frauen, und zwar Menschen von den größten und besten Eigenschaften, sich in diesem Punkte schwach gezeigt haben und nicht fähig gewesen sind, eine geheime Freude oder einen geheimen Schmerz zu ertragen. Sie haben davon sprechen müssen, nur um sich selbst Luft zu machen und um ihr Gemüt zu entlasten. Und dies war weder Torheit noch Schwachheit, sondern nur eine natürliche Folge der Dinge; und solche Leute werden, wenn sie allzu lange gegen die Versuchung, zu reden, ankämpfen, sich gewiß im Schlaf offenbaren und das Geheimnis enthüllen; und zwar dann ohne Ansehung der Person, der sie es überliefern. Diese Naturnotwendigkeit ist eine Erscheinung, die zuweilen mit solcher Gewalt in den Geistern derjenigen Menschen arbeitet, die sich eines Verbrechens, eines geheimen Mordes zum Beispiel, schuldig gemacht haben, daß sie gezwungen waren, es zu entdecken, obgleich es ihren eigenen Untergang zur Folge hatte. Wenn nun auch der göttlichen Gerechtigkeit der[416] Ruhm und die Ehre für solche Bekenntnisse gebührt, so ist es doch gewiß, daß die Vorsehung, die sich der Natur bedient, sich hier unnatürliche Ursachen dienstbar macht, um solch außerordentliche Wirkungen zu erzielen.

Ich könnte mehrere bemerkenswerte Beispiele hierfür aus meiner langen Bekanntschaft mit dem Verbrechen und den Verbrechern anführen. Ich will aber nur eines erwähnen. Ich kannte einen Burschen, der, während ich in Newgate gefangen war, so bestimmt alles im Schlafe erzählte, was er getan hatte, wie er es wachend nur immer hätte tun können; und nachdem er entlassen worden, mußte er sich jeden Abend einschließen, damit ihn niemand hörte. Wenn er jedoch einmal wieder all seine Abenteuer und Erfolge irgend einem Kameraden, irgend einem anderen Dieb, anvertraut hatte, so war alles wieder gut, und er schlief so ruhig wie jeder gewöhnliche Mensch.

Da ich meine Lebensgeschichte zu Ehren einer gerechten Moral, zur Belehrung, Vorsicht, Warnung und Besserung eines jeden Lesers niederschreibe, so wird man all diese Bemerkungen hoffentlich nicht als eine unnötige Abschweifung empfinden. Es wird ja immer Leute geben, die genötigt sind, eigene oder fremde Geheimnisse zu behüten.

Ich jedenfalls litt schwer unter dem Druck des Geheimnisses, von dem ich eben gesprochen, und die einzige Erleichterung, die ich mir gestatten konnte, war die, meinem Gatten insoweit Mitteilung davon zu machen, daß er die Notwendigkeit einsah, unseren Wohnsitz in einem anderen Teile der neuen Welt aufzuschlagen. Die nächste Frage war nun: welchen Teil der englischen Niederlassung sollten wir wählen? Mein Gatte war ganz fremd im Lande und hatte keinerlei Kenntnis von seiner geographischen Lage, und ich wußte, ehe ich dieses schrieb, nicht einmal, was das Wort geographisch zu bedeuten habe, und kannte das Land nur aus meinen langen Unterhaltungen[417] mit den Leuten, die aus den verschiedenen Teilen hergezogen waren. Doch wußte ich, daß Maryland, Pennsylvanien, Ost- und West-Jersey, New-York und New-England nördlich von Virginia lagen und deshalb ein kälteres Klima haben mußten, vor dem ich eine große Abneigung empfand. Ich liebte die Wärme von Natur aus und kam nun auch in die Jahre, in denen jeder die Kälte scheut. Ich dachte eher daran, nach Carolina zu gehen, der südlichsten Kolonie der Engländer auf dem Kontinent.

Ich schlug also meinem Gatten vor, uns in Carolina anzusiedeln, und er ging bereitwilligst auf diesen Plan ein, denn seit ich ihm versichert hatte, man würde mich in unserem Teil des Landes bald erkennen, hielt er es, wie gesagt, selbst nicht für ratsam, noch länger da zu bleiben.

Nun war aber noch immer die große Schwierigkeit zu überwinden: ich konnte nicht daran denken, das Land zu verlassen, ohne mich genauer darnach erkundigt zu haben, was meine Mutter mir hinterlassen. Und völlig unerträglich war mir der Gedanke, wegzugehen, ohne mich meinem alten Gatten und Bruder, sowie vor Allem seinem Kinde, meinem Sohne, erkennen zu geben. Nur wollte ich das auf alle Fälle so tun, daß mein neuer Gatte nichts davon erfuhr, und daß auch die anderen von meiner Verheiratung mit ihm keine Kenntnis bekamen. Ich machte nun tausend Pläne, wie dies anzufangen sei. Gerne hätte ich meinen Gatten vorher nach Carolina geschickt und wäre später nachgekommen, doch ging dies nicht an, denn er rührte sich ohne mich nicht von der Stelle, da er sowohl mit dem Lande, als auch mit den Niederlassungsbedingungen vollständig unbekannt war. Dann dachte ich einmal daran, zu gleicher Zeit mit ihm zu gehen, dann aber wieder nach Virginia zurückzukommen. Doch sagte ich mir gleich darauf, daß er sich doch niemals von mir trennen und allein zurückbleiben würde. Er war als Gentleman erzogen und mit der Arbeit[418] nicht nur unbekannt, sondern ihr geradezu feindlich gesinnt; er schlug sich lieber mit seiner Flinte in die Büsche und jagte, als daß er sich den Arbeiten, die auf einer Plantage nötig sind, überließ.

Es standen meinen Plänen also fast unüberwindliche Hindernisse entgegen, und ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Es drängte mich so, meinen früheren Gatten zu sagen, daß ich noch lebte, daß ich diesem Wunsche nicht mehr widerstehen konnte. Außerdem kam noch das Bedenken hinzu, wenn er mich nicht bei seinen Lebzeiten als seine ehemalige Gattin anerkenne, so möge es später sehr schwer sein, seinen Sohn zu überzeugen, daß ich die betreffende Person, seine Mutter, sei, und ich würde auf diese Weise nicht nur meine Verwandten, sondern auch die Hinterlassenschaft meiner Mutter verloren haben. Und hinwiederum – wie konnte ich jemals daran denken, sie wissen zu lassen, unter welchen Umständen ich hierhergekommen? und daß ich wieder verheiratet war und daß ich hier als verschickter Sträfling lebte? Diese beiden Umstände schlossen den Kreis meiner Betrachtungen und wiesen mich von neuem auf die Notwendigkeit hin, mich ihnen von einem anderen Orte und unter anderer Gestalt zu nähern. Ich bestand also meinem Gatten gegenüber immer wieder auf der Notwendigkeit, uns aus der Potomackgegend zu entfernen, wo wir sehr bald erkannt werden müßten. Wenn wir uns jedoch in eine andere Ansiedelung begäben, könnten wir, wie ich ihm bei jeder Gelegenheit versicherte, dort mit soviel Ehren bestehen, wie jede andere Familie, die mit Besiedelungsabsichten herüberkomme und da den Einwohnern ein Zuzug von Besitzenden stets angenehm sei, könnten wir eines liebenswürdigen Empfangs versichert sein. Und nie würde die Notwendigkeit an uns herantreten, unsere Verhältnisse offenbaren zu müssen.

Weiterhin hielt ich ihm immer wieder vor, ich hätte an unserem jetzigen Wohnort noch mehrere Bekannte, die nicht wissen dürften, aus welchen Gründen ich England verlassen. Auch hätte ich[419] Grund, anzunehmen, daß meine Mutter, die hier gestorben sei, mir etwas, vielleicht sogar viel hinterlassen, und daß eine Erkundigung danach sich wohl der Mühe lohnte. Dies könne ich aber nur tun, wenn wir von hier wegzögen. Von jedem andern Ort aus könnte ich ja meinen Bruder und meinen Neffen besuchen, um mich nach meinem Erbteil zu erkundigen. Man würde mich nur mit Hochachtung aufnehmen, und ich sei sicher, daß mir Gerechtigkeit widerfahre. Wenn ich es jedoch jetzt schon täte, könnte ich nichts als Unannehmlichkeiten erwarten. Sollte man überhaupt von mir Beweise verlangen, daß ich wirklich die Tochter meiner Mutter sei, so käme ich in die größte Verlegenheit. Mit diesen Argumenten überzeugte ich endlich meinen Gatten, und wir beschlossen also, uns in einer anderen Kolonie niederzulassen, und wählten endgültig Carolina.

Zuerst erkundigten wir uns nach Schiffen und erfuhren, daß an der anderen Seite der Bucht in Maryland ein Schiff läge, das mit Reis und anderen Gütern beladen, von Carolina gekommen sei und wieder dorthin zurückwolle. Wir mieteten eine Schaluppe, packten unsere Güter hinein, sagten den Potomackgebieten Lebewohl und begaben uns mit unserer Ladung nach Maryland hinüber.

Die Reise war lang und unangenehm, und mein Gatte sagte, sie komme ihm schlimmer vor, als die Überfahrt von England. Das Wetter war schlecht, die See rauh und das Schiff klein und unbequem. Wir fuhren zunächst den Potomack hundert Meilen weit hinauf und kamen in einen Teil des Landes, der West-Morland genannt wird; und da der Fluß der größte in Virginia ist, und, wie ich habe sagen hören, der größte Fluß der Welt überhaupt, der in einen anderen und nicht gleich in das Meer mündet, waren wir bei dem schlechten Wetter häufig in großer Gefahr; denn obgleich dieses Wasser nur Fluß genannt wird, war es oft so breit, daß wir meilenweit nach den Seiten hin kein Land mehr erblicken konnten. Dann mußten wir die große Chesapeakbucht kreuzen, die dort, wo der Potomack[420] mündet, dreißig Meilen breit ist, sodaß wir in unserer armseligen Schaluppe mit all unseren Schätzen weit über hundert Meilen weit reisen mußten. Ein kleiner Unfall hätte uns alle zu grunde richten können; wie fürchterlich wäre es allein schon für uns gewesen, all unsere Güter zu verlieren und nackt und bloß in dieser wilden fremden Gegend ohne Freund und Bekannten zurückzubleiben. Der bloße Gedanke daran erfüllt mich noch jetzt, da die Gefahr vorüber, mit wahrem Schauder. Wir kamen nach fünftägiger Fahrt an dem bezeichneten Orte an, ich glaube, er hieß Philip's Point, und erfuhren, daß das gesuchte Schiff schon vor drei Tagen abgefahren sei. Das war eine grosze Enttäuschung, doch liesz ich mich niemals leicht entmutigen und redete meinen Gatten zu, da wir nun einmal nicht nach Carolina gelangen könnten, und das Land, in dem wir uns befanden, sehr fruchtbar schien, wollten wir einmal zusehen, ob es nicht zweckmäszig wäre, gleich dort zu bleiben. Wir begaben uns sofort an die Küste, fanden den Ort selbst jedoch nicht zur Niederlassung geeignet, dort riet uns nur ein ehrlicher Quäker, den wir antrafen, ungefähr sechzig Meilen weiter östlich zu gehen, das heiszt auf die Mündung der Bucht zu. Dort wohne er auch und wir würden gewiß geeignetes Land zur Anpflanzung finden. Er lud uns mit soviel Freundlichkeit ein, daß wir sein Anerbieten annahmen und mit ihm zogen.

Nachdem wir angelangt, mieteten wir zwei farbige Dienstboten, sowie eine englische Arbeiterin, die eben mit dem Schiff von Liverpool gekommen war, und einen Neger. Denn alle Leute, die sich dort niederlassen wollten, hatten tüchtige Arbeitskräfte nötig. Der Quäker kam uns hilfreich entgegen, und als wir an dem Orte, den er uns im besonderen empfohlen hatte, ankamen, fanden wir ein Vorratshaus für unsere Waren und Wohnräume für uns und unsere Dienstboten. Und nach ungefähr zwei Monaten ließen wir uns von der Verwaltung ein großes Stück Land zuerteilen und gaben jeden Gedanken, nach Carolina zu gehen, vollständig auf.[421] Man hatte uns hier ja so wohl empfangen und gewährte uns Gastfreundschaft, bis es uns gelungen war, ein eigenes großes Haus zu erbauen und das Land urbar zu machen. Der Quäker stand uns in allem bei, und nach Verlauf eines Jahres hatten wir fast fünfzig Morgen Land urbar gemacht, zum Teil eingefriedet und mit Tabak bepflanzt. Außerdem hatten wir Garten und genügend Korn, sowie Wurzeln, Gemüse, Obst und Brot für uns und unsere Dienstboten.

Und nun bat ich meinen Gatten, er möge mich noch einmal über die Bucht gehen lassen, um mich nach meinen Verwandten zu erkundigen. Er schien nicht abgeneigt zu sein, denn er hatte nun eine Aufgabe vor sich, und außerdem seine Flinte, und fühlte sich überhaupt sehr glücklich, und zuweilen sahen wir uns beide erfreut an und dachten darüber nach, wieviel besser wir nun daran seien, nicht allein, als in Newgate, sondern auch, als in den erfolgreichsten Tagen der verworfenen Gewerbe, die wir beide früher betrieben.

Quelle:
Daniel De Foe: Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders. Berlin [1903]., S. 408-422.
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