[33] Niemals sah ich die Nacht beglänzter!

Diamantisch reizen die Fernen.

Durch mein staubiges Kellerfenster

schielt der Schein der Gaslaternen,


schielt auf meine frierenden Hände,

und mich quälen Wollustbilder.

Grau sind diese nackten Wände;

doch sie flimmern. Und mein wilder


irrender Wille kann sich nicht mehr täuschen:

unsre Lüste wollen fruchtbar sein.

Mit den Schatten meiner keuschen

Kammer spielt ein schwüler Schein:


an den hohen Häusern drüben glühen

aus der Finsternis die Fenster,

wo die Freudenmädchen blühen –

niemals sah ich die Nacht beglänzter!
[33]

Und die Sterne sind wie brennende Blicke;

Welten sehnen sich nach mir!

Ich verschmachte. Ich ersticke.

Ja: ich frevelte an ihr –


ihr, der ich entrinnen wollte

und mich wie ein Mönch verkroch,

der dem Licht der Sinne grollte,

aber es entzückt ihn doch!


Selbst in meiner kalten Zelle

fühle ich das Leben toben,

der ich wagte, dieses schnelle

Herz zu dämpfen. Aber oben


über meinem dunklen Tale,

Venus, seh ich angebrannt

Deine flammenden Fanale.

Und den Blick hinaufgewandt


ruf ich aus dem tiefen Turme

meiner Ängste zu dir hoch:

Göttin, wandle dich zum Wurme,

sei im Wurme Göttin noch!


Sausend schaukelt eine Not mein Herz

wie in erster süßer Knabenfrühe;[34]

ich verschmachte! ich verglühe!

jeder Stern ist mir ein Schmerz!


Ihre Strahlen sind wie stechende Ruten

marternd, wenn du mich nicht kühlst,

wenn nicht Du mit deinem gnädigen Blute

meine dürstende Inbrunst stillst!


Sieh, da lichtet sich ein neues Fenster,

zuckt ein steiler Kerzenstreifen –

niemals sah ich die Nacht beglänzter!

Ja, entzünde dich dem Reifen,


Ewige, lächle! Deine Kerzen bleiben;

alle andern sind verblichen.

Hinter jenen schwarzen Scheiben

schlafen alle Ordentlichen –


schlafen, wie sie immer schliefen,

wenn die Gottheit Ordnung schuf,

während mir aus magischen Tiefen

auftaucht mit melodischem Ruf

Quelle:
Richard Dehmel: Die Verwandlungen der Venus. Berlin 1907, S. 33-35.
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