Erster Traum

[31] Tochter des schönsten Rosenstockes! Einsam

Stehst du noch immer. Deine Schwestern alle

Glänzen und duften lange schon um edler

Jünglinge Scheitel.


Wandelt der Sohn des Liedes dich vorüber

Unter dem Abendwinde, dann umwallt ihn

Deines Geruches süße Fluth. Er seufzet:

Immer noch einsam!


Aber um dich her schrecken unversöhnte

Dörner, um dich her windet sich ein hoher

Dreimal geflochtner Zaun, und gönnt dem Auge

Kaum dich zu sehen.


Blick' ich durch seine Klüfte, dann entdeck' ich,

Holde! dein Streben. Hielte dich dein Stengel

Minder, du trotztest deiner Hürde, flögest

Feurig herüber.
[31]

Freudig erhübe deinen Flug der Barde.

Freudig erklängen seine Feiersaiten:

Heil dem beglückten Erdesohn', in dessen

Hände du sänkest.


Wonnevoll hüpften Fluren dir entgegen,

Trunken von Hoffnung, sich mit Erben deiner

Farbe zu kleiden, sich mit Erben deiner

Düfte zu kleiden.


Tochter des schönsten Rosenstockes! Aengstig

Ist mir um dich die Seele. Deine milden

Sonnen verblinken, und die Morgen hauchen

Kälter, und Reif dräut.


Fällt er, und welken deine Blätter, o dann

Bleibet dir noch ein Trost beschieden. Einstens

Sieht dich mein Aug' in seligern Gefilden

Herrlicher aufblüh'n.

Quelle:
Michael Denis: Auserlesene Gedichte, Passau 1824, S. 31-32.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte
Dritte Sammlung Kurzerer Gedichte
Sammlung Kurzerer Gedichte
Sammlung Kurzerer Gedichte