Neuntes Kapitel

[60] Enthält weitere Einzelheiten über den liebenswürdigen alten Herrn und seine hoffnungsvollen Zöglinge.


Spät am nächsten Morgen erwachte Oliver nach langem, festem Schlummer. Es war niemand im Zimmer als der alte Jude, der Kaffee zum Frühstück in einer Pfanne kochte und leise vor sich hin pfiff, beständig mit dem Blechlöffel in dem Topf herumrührend. Jedesmal, wenn auch nur ein leises Geräusch von der Straße heraufdrang, hielt der Jude inne, um zu lauschen, beruhigte sich aber jedesmal wieder und pfiff und rührte weiter. Oliver war zwar aufgewacht, befand sich aber noch in jenem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, wo man mit halboffnen Augen daliegt und, obgleich man alles, was um[60] einen ringsum vorgeht, genau wahrnimmt, doch näher dem Traume ist als wirklichem Wachsein. Mit halbgeschlossenen Augen sah er den Juden, hörte sein leises Pfeifen und das Geräusch, wie er mit dem Löffel in der Pfanne herumkratzte. Als der Kaffee fertig war, schob der Jude den Kessel vom Feuer weg, stand eine Weile unschlüssig da, drehte sich dann nach Oliver um und rief ihn an.

Oliver antwortete nicht, sondern schien allem Anschein nach weiterzuschlafen. Hierauf schlich der Jude leise zur Türe und schloß sie ab. Dann zog er aus einer Falltüre im Boden eine kleine Schatulle hervor, setzte sie sorgfältig auf den Tisch, und seine Augen funkelten, wie er den Deckel aufhob und in das Kästchen hineinblickte. Dann rückte er einen alten Stuhl herbei, setzte sich und holte eine prachtvolle goldene Uhr mit Diamanten besetzt hervor.

»Verdammt pfiffige Hunde,« murmelte er vor sich hin, zog die Schultern in die Höhe und verzerrte die Muskeln seines Gesichts zu einem scheußlichen Grinsen. »Verdammt geschmierte Hunde und verbissen bis zum letzten Atemzug. Nix haben sie dem alten Pfaffen verraten, nix haben se veretzt den alten Fagin, hihi. Worüm hätten se auch sollen? Was hätts ihnen auch geholfen? Das Malheur hätten se doch nix abgehalten; nicht um ä Minute. Famose Burschen, feine Burschen.«

Dann legte er die Uhr wieder in das Kästchen zurück, holte noch mehrere andre ähnliche hervor, dann: Ringe, Armbänder und sonstige Pretiosen, alle so wundervoll gearbeitet, daß Oliver förmlich geblendet war.

Den Schluß bildete ein Schmuckstück, das so klein war, daß der Jude es ganz in seiner Handfläche verbergen konnte. Es schien sich eine sehr kleine, kaum sichtbare Inschrift darauf zu befinden, denn Mr. Fagin legte das Kunstwerk flach auf den Tisch, hielt die Hand darüber und betrachtete es lange und ganz nah und mit scharfem Blick. Dann legte er es, offenbar nicht imstande, die Inschrift zu entziffern, wieder weg, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und murmelte:

»Ist doch ä feine Sache das Hinrichten. Ä Toter bereit nix mehr. Ä Toter kann nix mehr verraten.[61] Haast ä Geschäft. Fünfe aufgehängt hinter enander und keiner mehr da, um den reumütigen zu spielen.«

Plötzlich fielen die funkelnden schwarzen Augen des Juden, der bisher gedankenverloren vor sich hingestarrt, auf Olivers Gesicht und begegneten dessen Blicken, die mit stummer Neugier auf ihn gerichtet waren. Heftig schlug er die Schatulle zu, ergriff das Brotmesser, das auf dem Tische lag, und sprang wütend auf. Er zitterte vor Entsetzen, denn das Messer, das er in der Hand hielt, zuckte in der Luft heftig hin und her, wie Oliver deutlich bemerken konnte.

»Was soll das?« rief der Jude. »Was spionierst de da? Warum bist de plötzlich wach? Was hast de gesehen? Sprich, sag ich dir, wenn dir dein Leben lieb ist.«

»Ich konnte nicht mehr schlafen, Sir,« erwiderte Oliver demütig. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe, Sir?«

»Du bist nicht wach gewesen vor einer Stunde?« rief der Jude mit wilden Blicken.

»Nein, wirklich nicht,« beteuerte Oliver.

»Ist das auch sicher wahr?« rief der Jude drohend.

»Ganz gewiß, Sir. Ich bin eben erst aufgewacht.«

»Schon gut, schon gut,« murmelte der Jude, nahm plötzlich sein altes Wesen wieder an und spielte mit dem Messer, um Oliver glauben zu machen, er habe es nur im Scherz genommen. »Ich weiß doch, kleiner Freund, ich hab doch nur gemacht e Scherz, du bist e braver Bursch, e braves Bürschchen, Oliver, hihi.«

Dabei rieb er sich kichernd die Hände, blickte aber immer noch scheu und unsicher auf die Schatulle.

»Hast du gesehen die schönen Sachen drin, Oliver?« fragte er nach einer Pause und legte die Hand auf das Kästchen.

»Ja, Sir.«

»Also, also doch gesehen?« rief der Jude und wurde bleich. »Nu, ja, das ist halt mei kleines Eigentum. Alles, wovon ich hab zu leben auf meine alten Tage. Die Leunte sagen, ich bin e Geizhals, aber laß se reden. Was liegt weiter daran.«

Oliver kam zu dem Schluß, der alte Gentleman[62] müsse offenbar ein schrecklicher Geizhals sein, daß er so viel Taschenuhren besäße und trotzdem in einer so schmutzigen Kammer wohne. Aber er nahm an, daß vielleicht seine Vorliebe für den Baldowerer – den jungen Dawkins – und die andern Jungen ihn ein hübsches Stück Geld koste, und daß er immerhin ein großer Menschenfreund sein müsse. Er blickte ihn daher nur achtungsvoll an und fragte, ob er aufstehn dürfe.

»Natierlich, mei Junge, natierlich,« erwiderte der alte Herr. »Aber wart mal, dort in der Ecke neben der Tür steht ein Topp mit Wasser. Bring ihn heriwer. Ich will dir geben e Schüssel, daß de dir kannst waschen, Kleiner.«

Oliver stand auf, ging durch die Stube und bückte sich einen Augenblick, um den Krug aufzuheben. Als er sich wieder umdrehte, war die Kassette verschwunden.

Er hatte sich kaum gewaschen und alles wieder in Ordnung gebracht, dem Befehl des Juden gemäß das Waschbecken ausgeschüttet und an seinen Ort zurückgestellt, als der »Baldowerer« – Mr. Dawkins – in Begleitung eines sehr lustigen Jungen, eines von denen, die Oliver am vergangenen Abend hatte rauchen sehen, und der ihm jetzt in aller Form als Charley Bates vorgestellt wurde, eintrat. Und alle vier setzten sich hierauf zum Frühstück, das aus Kaffee und ein paar mit Schinken belegten Brötchen bestand, die der Baldowerer in seinem Hut mitgebracht hatte.

»Na,« sagte der Jude zu dem Baldowerer gewendet und warf dabei einen lustigen Blick auf Oliver. »Was is? Ihr seid doch hoffentlich gewesen heinte frih schon bei der Arbeit, Jungens?«

»Es war eine schwere Arbeit,« murrte der Baldowerer.

»Verdammt hart,« setzte Charley Bates hinzu.

»Brave Burschen, brave Burschen,« lobte der Jude. »Was hast de mitgebracht, Baldowerer?«

»Zwei Taschentücher,« erwiderte der wackre junge Mann.

»Gestickte?« fragte der Jude gierig.

»Na, macht sich,« erwiderte der Baldowerer und zog zwei Taschentücher hervor, ein grünes und ein rotes.[63]

»Nicht so wie mer's hätt wünschen sollen,« sagte der Jude, nachdem er die entfalteten Tücher sorgfältig geprüft hatte. »Aber e feine Arbeit. E geschickte Hand muß das gewesen sein, was meinen Sie, Oliver?«

»Wahrhaftig, ja,« gab Oliver zu, worauf Charley Bates in ein wieherndes Gelächter ausbrach – zu seiner größten Verwunderung, denn er konnte bei all dem nicht den geringsten Grund zum Lachen sehen.

»Und was hast du mitgebracht, Kleiner?« fragte Fagin Charley Bates.

»Auch Riegerlappen,« erwiderte Master Bates und brachte vier Taschentücher zum Vorschein.

»Hem,« murmelte der Jude und besichtigte sie bei Licht. »Güt, sehr güt, – aber du hast se nicht gut gezeichnet, Charley, mir wollen herauszupfen die Monogramme mit der Nadel und wollen zeigen dem kleinen Oliver, wie er es machen soll. Was meinen Sie, Oliver, was?«

»Wenn Sie die Güte haben wollen,« erwiderte Oliver.

»Du möchtest wohl auch gerne machen können Taschentücher so leicht wie Charley Bates, nicht wahr Kleiner?« fragte der Jude.

»O gewiß, von Herzen gern, wenn Sie es mich lehren wollen, Sir,« bat Oliver.

Charley brach in ein schallendes Gelächter aus, daß er darüber beinahe erstickte. »Gott, ist das ein Greenhorn,« rief er endlich, offenbar, um sich der Gesellschaft gegenüber wegen seines unmanierlichen Betragens zu entschuldigen.

Der Baldowerer sagte nichts, sondern strich Oliver das Haar über die Augen und meinte dann grinsend, er würde es mit der Zeit schon lernen. Der Jude unterbrach ihn, da er sah, daß Oliver blutrot wurde, indem er die Frage stellte ob heute Morgen bei der Hinrichtung viele Leute zugegen gewesen wären. Die beiden Jungen erwiderten, sie seien selbst dort gewesen, und Oliver wunderte sich, woher sie dann in aller Frühe so viel Zeit gehabt haben könnten, noch außerdem Taschentücher zu sticken.

Als das Frühstück abgeräumt war, unterhielten sich[64] der lustige alte Herr und die beiden Jungen mit einem höchst seltsamen und ungewöhnlichen Spiel. Der lustige alte Herr schob nämlich eine Schnupftabaksdose in eine Hosentasche, eine zweite nebst einem Notizbuch in die andre, steckte eine Uhr in die Westentasche, befestigte sich die Kette im Knopfloch, schmückte seine Krawatte mit einer falschen Brillantnadel, knöpfte sich den Rock fest zu und spazierte dann mit dem Stock in der Hand, in der Art, wie alte Herren sich zu allen Tagesstunden auf der Straße zu ergehen pflegen, im Zimmer hin und her. Zuweilen blieb er beim Herde stehen und dann wieder an der Türe und tat, als betrachte er ein Schaufenster. Dabei blickte er sich aber beständig um wie aus Angst vor Taschendieben und betastete immerwährend seine Kleider ob man ihn auch nicht bestohlen habe. Er benahm sich dabei so ungeheuer komisch, daß Olivern vor Lachen die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über blieben die beiden Jungen dem Juden dicht auf den Fersen und entschlüpften ihm, wenn er sich umdrehte, so geschickt, daß es ihm geradezu unmöglich war, sie genau ins Auge zu fassen. Schließlich trat ihm der Baldowerer auf die Zehen oder stolperte ihm scheinbar aus Zufall über die Füße, während Charley Bates sich von hinten an ihn herandrängte und ihm mit außerordentlicher Geschwindigkeit Tabaksdose, Brieftasche, Uhr, Kette, Busennadel und Taschentuch, ja sogar das Brillenfutteral stahl. Dann fing das Spiel von neuem an.

So hatten sie es ein paarmal getrieben, da traten ein paar junge Damen ein, die die beiden jungen Herren zu sprechen wünschten. Die eine hieß Bet, die andre Nancy. Sie hatten beide sehr reiches Haar, das hinten nicht gerade sehr sorgfältig in einen Knoten gewickelt war, und Schuhe und Strümpfe an, die ebenfalls nicht sehr proper aussahen. Immerhin waren sie recht hübsch, lebhaft gefärbt und drall. Da sie in ihrem Benehmen sehr ungezwungen und freundlich waren, hielt sie Oliver für sehr nette liebenswürdige Mädchen. Was sie ohne Zweifel auch waren.

Ihr Besuch dauerte ziemlich lange. Und als eine der jungen Damen über Kälte klagte, wurde sogleich Schnaps geholt, und die Unterhaltung nahm einen recht[65] angeregten Verlauf. Schließlich sagte Charley Bates, es sei höchste Zeit, sich auf die Socken zu machen. Gleich darauf gingen der Baldowerer, er und die beiden jungen Damen weg, nachdem sie vorher von dem liebenswürdigen alten Juden reichlich mit Kleingeld versehen worden waren, das sie offenbar ganz nach Belieben ausgeben durften.

»Da siehste, mei Jung,« sagte Fagin, »lebt sichs nicht fein bei mir? Den ganzen übrigen Tag haben sie jetzt frei.«

»Sind sie denn schon fertig mit der Arbeit, Sir?« fragte Oliver.

»Gewiß,« sagte der Jude, »das heißt: falls sie nicht zufällig etwas erwischen können. Aber dann werdens sie sichs schon nehmen, Kleiner, verlaß dich drauf. Nimm se dir zum Vorbild, mei Jung, nimm se dir zum Vorbild,« wiederholte er gütig und klopfte, um seinen Worten den gehörigen Nachdruck zu geben, mit der Kohlenschaufel auf den Herd. »Tu alles, was se dir raten, und folg ihnen in allen Dingen – besonders, wenn der Baldowerer dir en Rat gibt. Ich sag dir, er wird noch eines Tages ä großer Mann sein und wird auch aus dir en großen Mann machen, wenn de dir an ihm e Beispiel nimmst; – sag mal, hängt mir nich mei Taschentuch zur Tasche eraus, mei Jung?« fragte er, plötzlich das Thema wechselnd.

»Ja, Sir,« erwiderte Oliver.

»Versuch mal, ob de es mir kannst erausziehen, ohne das ich was merk. Du weißt: so wie wir vorhin gespielt haben zusammen.«

Oliver hielt, wie er es vorhin vom Baldowerer gesehen, die Tasche mit der einen Hand fest und zog mit der andern leise das Taschentuch heraus.

»Ist es schon draußen?« fragte der Jude.

»Hier, Sir,« sagte Oliver und hielt ihm das Tuch hin.

»Gott über de Welt! E so e geschickter kleiner Jung!« sagte der spaßhafte alte Herr und tätschelte Oliver beifällig auf den Kopf. »Noch nie hab ich gesehen e so en geschickten kleinen Jungen. Da is e Shillin für dich. Wenn de ä so weiter machst, wirst[66] de noch der größte Mann deiner Zeit werden. Aber jetzt komm emol her. Ich will dir zeigen, wie mer erausmacht die Monogrammerlich aus den Taschentüchern.«

Oliver zerbrach sich nicht wenig den Kopf, wieso er bloß deswegen, weil es ihm gelungen, einem alten Herrn ein Tuch aus der Tasche zu ziehen, Aussichten haben sollte, der größte Mann seiner Zeit zu werden, aber er nahm an, der Jude müsse, wo er ihm so bedeutend an Jahren überlegen sei, derlei wohl am besten wissen. Er folgte ihm daher an den Arbeitstisch und war bald eifrig in seine neue Beschäftigung vertieft.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 60-67.
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