Fünfunddreißigstes Kapitel

[252] Das Resultat von Olivers Abenteuer und eine Unterredung von ziemlicher Wichtigkeit zwischen Harry und Rose.


Als die Hausbewohner, durch Olivers Hilferufe alarmiert, herbeieilten, fanden sie ihn bleich und erregt mit dem Arm auf die Wiesen zeigend und mühsam die Worte hervorstoßend: »Der Jude, der Jude.«

Mr. Giles zerbrach sich vergeblich den Kopf über den Sinn dieser Worte. Harry Maylie, der Olivers Geschichte inzwischen von seiner Mutter erfahren hatte, begriff sie dagegen um so rascher.

»In welcher Richtung ist er davon?« fragte er und bückte sich nach einem Stock, der zufällig dalag.

Oliver wies nach der Richtung, in der er die beiden Männer hatte forteilen sehen, und sagte, daß sie soeben erst seinem Blick entschwunden seien.

»Dann werden wir sie schon einholen,« sagte Harry. »Folgt mir alle und haltet euch so dicht an mich, wie ihr könnt.«

Bei diesen Worten sprang er über die Hecke und eilte so rasch davon, daß ihm die andern kaum zu folgen vermochten. Nach ein paar Minuten gesellte sich auch Doktor Losberne, der eben von einem Spaziergang heimkam, zu ihnen und fragte sie laut, was denn geschehen sei.

Sie hielten ein wenig an, um Atem zu schöpfen, und dann bog Harry in den Wiesengrund ein, den ihm Oliver bezeichnet hatte. Sorgfältig durchsuchte er den Graben und die Hecke, und dadurch gewannen die Übrigen Zeit, zu ihm zu kommen und Doktor Losberne die Ursache der Jagd mitzuteilen.

Ihr Suchen war vergeblich, nicht einmal frische Fußspuren entdeckten sie. Endlich standen sie auf einem kleinen Hügel, von dem aus sie alle Felder, Wiesen und Äcker übersehen konnten, und linker Hand das[252] kleine Dorf. Doch die Verfolgten hätten, um es zu erreichen, eine viel längere Zeit brauchen müssen, als ihnen gegeben war.

»Du mußt geträumt haben,« sagte Harry, als sie nichts erblickten.

»Nein, Sir, wirklich nicht,« erwiderte Oliver schaudernd. »Ich habe ihn deutlich gesehen; ich habe beide so deutlich gesehen, wie ich Sie jetzt vor mir sehe.«

»Wer war denn der andre?« forschten Harry und Losberne zugleich.

»Derselbe Mann, von dem ich Ihnen sagte, daß ich ihn kürzlich im Hausgang des Gasthofes getroffen habe,« antwortete Oliver. »Wir starrten einander in die Augen, und ich kann beschwören, daß er es war.«

»Weißt du gewiß, daß sie diesen Weg genommen haben?«

»So gewiß, wie ich weiß, daß sie vor dem Feld dort standen,« versicherte Oliver und wies nach der Hecke zwischen Garten und Wiesengrund. »Da sah ich sie, sah den großen Mann hinüberspringen und auch den Juden und sich einige Schritte weiter rechts durch die Lücke drängen.«

Die beiden Herren blickten Oliver während seiner Erzählung unverwandt an und dann einander – die eifrigen Mienen des Knaben sagten ihnen deutlich, daß er die Wahrheit sprach. Indessen war noch immer keine Spur von den beiden Flüchtlingen zu entdecken. Das Gras war lang, aber nur dort niedergetreten, wo die Verfolger gegangen waren; auch in der feuchten Tonerde der Gräben zeigte sich nicht die geringste Spur frischer Fußstapfen.

»Das ist höchst aneiallend,« meinte Mr. Maylie.

»Höchst auffallend,« wiederholte Losberne. »Selbst der Firma Blathers & Duff würde der Verstand dabei stillstehen.«

Sie forschten weiter und suchten alles ab, bis der Herrinbruch der Nacht ihnen ein Ziel setzte. Aber selbst dann gaben sie ihre Bemühungen nur widerstrebend auf. Giles wurde nach verschiedenen Wirtshäusern im Dorf geschickt, nachdem er sich zuvor bei Oliver über Erscheinung und Kleidung der beiden[253] Fremden so gut wie möglich orientiert hatte. Jeden falls sah der Jude merkwürdig genug aus, um aufzufallen, angenommen, daß er eingekehrt war oder sonstwie das Dorf berührt hatte. Aber auch Giles kam ohne Nachricht wieder heim und war nicht imstande, das Geheimnis aufzuhellen.

Eine neue Suche am nächsten Tag ergab kein besseres Resultat. Auch der übernächste Tag, an dem Oliver mit Mr. Maylie den Marktflecken selber aufsuchte; doch die Hoffnung, dort etwas von den beiden Männern zu hören oder zu sehen, war fruchtlos. In den nächsten Tagen geriet der Vorfall nach und nach in Vergessenheit, wie die meisten Dinge vergessen werden, wenn das Interesse für sie in sich selbst erstirbt.

Mittlerweile war Rose genesen. Sie konnte wieder ausgehen, und Freude und Fröhlichkeit herrschte in der Familie. Trotzdem lag über allen eine sonst nicht übliche leise Zurückhaltung, die Oliver nicht entging. Mrs. Maylie und ihr Sohn entfernten sich oft und lange, und zuweilen glänzten Tränen in Roses Augen. Als Mr. Losberne den Tag seiner Abreise festgesetzt hatte, mehrten sich diese Anzeichen zusehends – offenbar war etwas im Gang, das störend in den Seelenfrieden der jungen Dame und der beiden andern eingriff.

Endlich eines Morgens, als Rose gerade im Wohnzimmer allein war, trat Harry Maylie herein und bat sie mit einigem Stocken um die Erlaubnis, ein paar Worte mit ihr unter vier Augen reden zu dürfen.

»Es werden nur wenige, sehr wenige sein, Rose,« sagte er und setzte sich zu ihr. »Was ich dir zu sagen habe, weißt du wohl schon lange. Die glühendsten Hoffnungen meines Herzens werden dir nicht unbekannt sein, wenn du sie auch noch nicht von meinen Lippen vernommen hast.«

Rose war bleich geworden, schon als sie ihn eintreten sah. Das mochte aber vielleicht von ihrer erst überstandenen Krankheit herrühren. Jetzt bückte sie sich rasch über einen Blumenstock, der in ihrer Nähe stand, und wartete stumm.

»Ich – ich – hätte längst abreisen sollen,« begann Harry.[254]

»Freilich,« versetzte Rose, »verzeihe, daß ich dir dies sage, aber ich wollte, es wäre so gewesen.«

»Die schrecklichste und quälendste aller Befürchtungen hat mich hergetrieben,« fuhr der junge Mann fort. »Die Angst und Sorge um das teuerste Wesen, das man auf Erden hat. Du warst dem Tode nahe, – standest zwischen Himmel und Erde. Wenn junge, schöne und gute Menschen von Krankheiten heimgesucht werden, so ahnen wir, daß ihre reinen Seelen sich unbewußt jener lichten Heimat ewiger Ruhe zuwenden, und wir wissen, daß leider nur allzuoft die besten und edelsten Menschen in der besten Blüte ihrer Jahre dahinwelken.«

Tränen traten dem schönen Mädchen in die Augen, als sie diese Worte vernahm, und eine von ihnen fiel auf die Blumen, über die sie sich gebeugt hatte, und glänzte in ihrem Kelche wie ein Tautropfen.

»Ein Engel,« fuhr der junge Mann leidenschaftlich fort, »ein Wesen so schön und frei von aller Schuld, wie ein Engel Gottes, hat zwischen Leben und Tod geschwebt. Durften wir hoffen, daß du zu den Leiden und Qualen dieser Welt zurückkehren würdest, da dein Blick fürs Jenseits schon halb geöffnet war? Es war zu viel, um es tragen zu können; – du bist wie ein sanfter Schatten über die Erde dahin geglitten, – wie ein Schatten, den ein Licht von oben auf die Erde wirft, und als mir alle Hoffnung schwand, du könntest uns erhalten bleiben, und wie sehr ich auch einsah, ich hätte kein Recht, dich zurückzuhalten hier auf Erden, so litt ich doch unsäglich darunter, du könntest nicht wissen, wie innig ich dich liebe. Da genasest du. Tag um Tag, Stunde um Stunde kehrte langsam deine Gesundheit zurück, und bald warst du wieder du selbst. Ich habe mit angesehen, wie du vom Tod wieder zum Leben zurückschwebtest – mit eigenen Augen, die fast blind geworden sind vor Angst und inniger Liebe. Sage nicht, es hätte dein Wunsch sein können, daß ich dies alles nicht hätte miterleben sollen, denn es hat mein Herz weich gestimmt gegen die ganze Menschheit.«

»Das sollte nicht in meinen Worten liegen,« schluchzte Rose. »Ich hätte nur gern gesehen, daß du[255] wieder fortgefahren wärest, um dich weiter deinen hohen und edlen Lebenszielen zu widmen.«

»Es gibt kein Ziel, das meiner würdiger wäre, als das Streben, ein Herz, wie das deinige, zu gewinnen,« erwiderte der junge Mann und ergriff ihre Hand. »Rose, meine liebe unendlich teure Rose! Ich habe dich seit –, ja, seit vielen Jahren geliebt und habe gehofft und geträumt, mir ein kleines Teil Ruhm zu erringen und dann stolz heimzukehren, um dir zu sagen, daß ich das Errungene nur gesucht, um es mit dir zu teilen. Diese Zeit ist zwar noch nicht gekommen, aber ich biete dir jetzt, auch ohne mir Ruhm erworben zu haben und ohne meine jugendlichen Träume erfüllt zu sehen, mein Herz, das schon lange dein gewesen, und setze mein alles auf die Worte, die du mir sagen wirst.«

»Du warst immer edel und vornehm,« sagte Rose, nur mühsam ihre Empfindung meisternd, »und damit du siehst, daß ich weder gefühllos, noch undankbar bin, so, bitte, höre meine Antwort.«

»Lautet sie dahin, ich müsse streben, deiner würdig zu werden, Rose?«

»Sie lautet,« versetzte Rose, »daß du dich bemühen mußt, mich zu vergessen. Nicht als deine dir anhängliche Jugendfreundin, denn das würde mich schwer kränken, sondern zu vergessen, mich als Gegenstand deiner Liebe zu betrachten. Schau dir die Welt an, bedenke, wieviel Mädchen es dort gibt, deren Gewinn dich mit gerechtem Stolz erfüllen müßte. Nimm von mir eine andre Liebe, und ich will dir die treuste und wärmste Freundin sein, die du dir nur denken kannst.«

Es folgte eine Pause. Rose hatte ihr Gesicht bedeckt und ließ ihren Tränen freien Lauf. Noch immer hielt Harry ihre Hand fest.

»Und deine Gründe, Rose?« fragte er endlich mit leiser Stimme. »Welche sind deine Gründe für diesen Entschluß?«

»Du hast ein Recht, diese Gründe zu kennen,« erwiderte Rose. »Meinen Entschluß aber darfst du nicht wankend machen; ich habe eine Pflicht zu erfüllen, das bin ich andern sowie auch mir schuldig.«

»Dir?«[256]

»Jawohl, Harry. Ich bin es mir selbst schuldig, daß ich nicht als Mädchen ohne Vermögen und Mitgift mit einem Makel auf meinem Namen deinen Freunden Grund zu dem Argwohn gebe, ich hätte mich als Hemmschuh an alle deine Hoffnungen und Pläne gehängt. Ich bin diese Pflicht dir schuldig und den Deinen und muß dich daran verhindern, daß du dir in der Aufwallung deines Herzens ein großes Hindernis in deinem Vorwärtskommen in den Weg stellst.«

»Wenn deine Neigungen im Einklang stehen mit deinem Pflichtgefühl –« begann Harry.

»Das ist nicht der Fall,« erwiderte Rose aufs Tiefste errötend.

»Du erwiderst also meine Liebe?« fragte Harry. »Sag nur dies eine Wort, liebe Rose, – dieses eine Wort und nimm damit deinen Worten alle Bitternis.«

»Hätte ich so handeln können, ohne den Mann, den ich liebe, bittres Unrecht zu tun,« sagte Rose, »dann hätte ich –«

»Die Erklärung ganz anders aufnehmen können,« ergänzte Harry. »Nicht wahr, Rose?«

»Es hätte sein können,« sagte Rose. »Aber genug jetzt,« setzte sie hinzu und machte ihre Hand los. »Wozu dieses schmerzliche Gespräch noch länger führen. Lebe wohl, Harry; so, wie wir heute miteinander gesprochen haben, werden wir es nie wieder tun. Möge aller Segen, den ein warmfühlendes Herz erflehen kann, dich erfreuen und beglücken.«

»Ein Wort noch,« bat Harry, »laß mich deinen Grund von deinen eignen Lippen hören.«

»Die Aussichten, die sich dir fürs Leben eröffnen,« antwortete Rose fest und bestimmt, »sind glänzend. Alle Ehrenstellen, zu denen ein großes Talent und gute Verbindungen Männern im öffentlichen Leben verhelfen können, warten deiner im reichsten Maß. Aber diese Verbindungen sind vornehmer Art, und ich will und werde mich weder unter solche Leute mischen, die gegen meine Mutter, die mir das Leben gab, verächtliche Gedanken hegen mögen, noch weniger aber will ich Mißgunst und Mißerfolg über den Sohn der Frau bringen, die die Stelle dieser Mutter vortrefflich an mir ausgefüllt[257] hat. Mit einem Wort,« schloß die junge Dame und wandte sich ab, da ihre Festigkeit sie im Stiche zu lassen drohte, »es haftet an meinem Namen ein Makel, und ich will nicht, daß ihn andre mit mir tragen. Auf mir allein soll der Vorwurf ruhen.«

»Ein Wort noch, Rose, ein einziges noch,« rief Harry und warf sich vor ihr auf die Knie. »Wenn ich weniger glücklich – das, was man in der Welt glücklich nennt – gewesen, wenn ich unbekannt oder arm, krank oder hilflos gewesen wäre, hättest du dich dann auch noch von mir gewendet?«

»Dränge mich nicht zu einer Antwort,« erwiderte Rose. »Auf Beantwortung zu dringen, wäre unedel, wenn nicht lieblos.«

»Wenn deine Antwort lautet, wie ich fast hoffen möchte,« versetzte Harry, »dann wird ein Strahl des Glückes meinen einsamen Pfad bescheinen und die vor mir liegende Lebensbahn erhellen. Ich bitte dich, Rose, um meiner heißen Liebe willen, antworte mir auf meine Frage!«

»Nun, wenn du ein andres Lebenslos gehabt hättest,« erwiderte Rose, »und stündest du auch über mir, nur nicht so allzu hoch und so fern wie jetzt, dann wäre ich imstande gewesen, in einem zurückgezogenen bescheidenen Wirkungskreis dir helfen und beistehen zu können. Jetzt aber wäre ich dir in der Welt nur störend und hinderlich, – und solche Prüfung bliebe mir nicht erspart. Aber auch so habe ich allen Grund, glücklich, überglücklich zu sein – dann wohl, Harry, glaube mir, würde ich noch glücklicher sein.« Sie brach in Tränen aus, doch die Tränen brachten ihr nur Linderung. »Ich kann mich der Schwäche nicht erwehren, aber sie festigt nur meinen Entschluß,« schloß sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich muß dich jetzt verlassen.«

»Ich bitte dich nur noch um ein Versprechen,« flehte Harry. »Einmal noch, nur ein einziges Mal – sagen wir in einem Jahr – laß mich noch einmal mit dir reden –«

»Glaube mich nicht zu einer Änderung unsres gerechten Entschlusses umstimmen zu können,« antwortete Rose trüb lächelnd, »es wäre zwecklos und nutzlos.«[258]

»Nein,« sagte Harry, »nur um deinen Entschluß, wenn er feststeht, aus deinem Mund noch einmal zu hören – zum letztenmal. Ich will zu deinen Füßen niederlegen, was ich dann besitze: Stellung und Vermögen; und beharrst du dann immer noch auf deinem Entschluß, so werde ich ihn weder durch Worte noch durch Handlungen zu ändern versuchen.«

»Gut, es gilt,« versetzte Rose. »Es wird nur eine Wiederholung von Schmerzen und Leid sein. Mittlerweile werde ich mich durchgekämpft haben, es leichter ertragen zu können.«

Noch einmal streckte sie die Hand aus. Der junge Mann zog sie an seine Brust, drückte Rose einen Kuß auf ihre schöne Stirn und eilte dann aus dem Zimmer.

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 252-259.
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