Zweiundvierzigstes Kapitel

[310] Ein alter Bekannter Olivers reift zu einem öffentlichen Charakter heran.


In jener Nacht, in der Nancy zu Rose geeilt war, schritten zwei Personen von Norden her auf der großen Hauptstraße London zu.

Es waren ein Mann und eine Frau, oder nennen wir sie besser: ein Er und eine Sie, denn ersteres von beiden war eine langbeinige, schlottrige, knöcherne Gestalt, die weder aussah wie ein gereifter Knabe, noch wie ein verkümmerter Mann. Die zweite war ein junges Frauenzimmer von derbem und kräftigem Bau, mit einer schweren Bürde auf dem Rücken. Ihr Begleiter hatte nur geringes Gepäck, trug es an einem Stock über der Schulter, und war infolgedessen stets einige Schritte weit vor ihr voraus, wobei er es an Vorwürfen über die Langsamkeit seiner Gefährtin nicht mangeln ließ. Die Beiden hatten Highgate hinter sich, da hielt die männliche Gestalt still und rief ungeduldig der weiblichen zu: »Kannst du denn nicht geschwinder gehen, was schleichst du denn immer so faul daher, Charlotte?«

»Es ist eine schwere Last, das kannst du mir glauben,« antwortete sie atemlos.

»Schwer? Dummes Geschwätz,« fuhr Noah Claypole – denn er war es – fort und legte sein kleines Bündel auf die andre Schulter. »Schon wieder stehst du still! Da muß schon der Geduldigste die Geduld verlieren.«

»Ist es noch weit?« fragte Charlotte und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn.

»Noch weit? Wir sind schon beinahe da. Siehst du dort hinten die Lichter von London?«

»Das sind ja noch zwei gute Meilen mindestens,« jammerte Charlotte verzweifelt.

»Zwei Meilen oder zwanzig, egal. Steh auf, sonst geb ich dir einen Tritt,« fuhr Noah zornig auf und[310] mit noch röterer Nase als gewöhnlich. Charlotte stand auf und schritt wieder neben ihm her.

»Wo gedenkst du für die Nacht zu bleiben?« fragte sie, nachdem sie ein paar hundert Schritt weit gegangen waren.

»Wie soll ich denn das wissen,« murrte Noah, dessen schlechte Laune sich durch den Weg nicht gebessert hatte.

»Ich denke doch irgendwo in der Nähe?« forschte Charlotte.

»Ach was, nix in der Nähe,« sagte Mr. Claypole. »Verstanden, nicht in der Nähe, und damit gut.«

»Du brauchst doch nicht gleich alles so krumm zu nehmen,« warf ihm seine Begleiterin vor.

»Ja, das wäre das Richtige, in die erste beste Kneipe einkehren und dort pappen bleiben, damit Sowerberry, wenn er uns nachfährt, uns gleich mit Handschellen wieder heimschaffen kann, was?« sagte Mr. Claypole höhnisch. »Nein, in den allerverstecktesten Gassen, die ich finden kann, werd ich mir eine Kneipe suchen. Übrigens hast du alle Ursache dankbar zu sein, daß ich so einen gescheiten Kopf hab: ein andrer hätte nicht, wie ich, erst die verkehrte Landstraße und dann erst die richtige eingeschlagen. Hätten wirs anders gemacht, wärst du jetzt schon acht Tage fest und angebunden. Übrigens, recht wärs dir geschehen, du Schaf.«

»Ich weiß ja, daß ich nicht so schlau bin wie du,« erwiderte Charlotte, »aber gib mir doch nicht alle Schuld und sag nicht, daß bloß ich eingesperrt worden wär. Dich hätten sie auch eingesperrt, gerad so wie mich.«

»Du hast das Geld aus dem Kasten genommen, oder weißt du das vielleicht nicht?« schimpfte Mr. Claypole.

»Ich habs für dich genommen, lieber Noah,« versetzte Charlotte.

»Hab ichs vielleicht behalten?« fragte Claypole dagegen.

»Nein, du hast es mir anvertraut und läßt es mich tragen, wie's sich für einen Bräutigam gehört, – und das bist du doch auch, Noahchen,« sagte das Mädchen und kraulte ihn unter dem Kinn, wobei sie ihren Arm durch den seinigen schob.[311]

Ohne Halt zu machen, setzte Mr. Claypole seinen Marsch fort, bis er am Engel in Islington vorbeikam. Das Gewühl von Fuhrleuten und Fahrgästen sagte ihm, daß sie am Anfange Londons angelangt seien. Er machte eine kurze Rast und schritt dann hinüber nach Saint Johns Road, und bald befanden sie sich in dem Dunkel der verschlungenen und schmutzigen Gassen, die zwischen Grays Innlane und Smithfield liegen und diesen gemeinen Stadtvierteln ihren Charakter aufprägen. Bald traten sie in dieses Gewinkel hinein, und Noah Claypole musterte sorgsam die kleinen Gast-und Einkehrhäuser, die dort lagen. Dann stolperte er wieder weiter, wenn etwas im Äußern des betreffenden Hauses darauf schließen ließ, es sei für seine Zwecke zu gut besucht und zu voll. Schließlich blieb er vor einem Gasthaus stehen, dessen Außenseite noch schmutziger war als die der übrigen, die er bisher gesehen. Er ging über die Straße hinüber und nahm es vom entgegengesetzten Pflaster aus in Augenschein und gab dann huldvoll seine Absicht zu erkennen, hier zu übernachten.

»Gib mir das Bündel her,« befahl er, hob es dem Mädchen von den Schultern und lud es sich auf die eigenen. »Den Mund gehalten, verstanden, außer du wirst gefragt. Wie heißt dieses Haus, kannst dus lesen: Drei – was?«

»Krüppel,« buchstabierte Charlotte.

»Drei Krüppel,« wiederholte Noah. »Ein feiner Name, was! Marsch jetzt, bleib mir nicht so dicht auf den Fersen.« Damit stieß er die knarrende Haustüre mit der Schulter auf, trat ein, und seine Begleiterin folgte ihm.

In der Schenke war niemand als ein junger Jude, der, beide Ellbogen auf den Trinktisch gestützt, in einem schmutzigen Zeitungsblatt las. Er musterte Noah mit scharfem Blick und Noah ihn desgleichen.

»Ist dies die Schenke zu den drei Krüppeln?«

»No natierlich,« versetzte der Jude.

»Ein Herr, den wir getroffen haben auf unserm Weg vom Land nach London, hat uns hierher empfohlen,« sagte Noah und nickte Charlotte zu, um ihr einzuschärfen, sie solle nicht am Ende ein verwundertes[312] Gesicht machen. »Wir wünschen hier zu übernachten.«

»Ich weiß nicht, ob sich das wird machen lassen,« sagte Barney – das war der Jude –, »jach werd mer erkundigen.«

»Wo ist hier die Gaststube? Geben Sie uns ein Stück kaltes Fleisch und einen Schluck Bier. Haben Sie verstanden!« sagte Noah.

Barney gehorchte und schob sie in einen kleinen rückwärtigen Raum, die verlangte Speise vor sie hinsetzend. Dann brachte er ihnen die Nachricht, sie könnten hier übernachten, und überließ das junge Paar sich selbst.

Die Hinterstube stieß unmittelbar an die Schenke und lag um ein paar Stufen tiefer, so daß man von draußen, ohne selbst bemerkt zu werden, jeden Gast durch einen Vorhang und einen in die Wand der Gaststube eingelassenen einflügeligen Fensterstock beobachten konnte. Ebenso konnte man, wenn man das Ohr an die Scheidewand hielt, ziemlich genau hören, worum sich das Gespräch drehte. Der Wirt der Schenke hatte seit ungefähr fünf Minuten die Augen nicht von diesem Ausguck entfernt, und Barney hatte kaum den neuen Gästen seine Auskunft übermittelt, als Fagin auf einem abendlichen Geschäftsgang begriffen an den Schenktisch trat, um nach dem einem oder dem andern seiner jugendlichen Zöglinge nachzufragen.

»Still,« flüsterte Barney, »Fremde sind heraußen.«

»Fremde?« wiederholte der alte Mann leise.

»Mir scheint, es sind Schnorrer,« setzte Barney hinzu, »vom Land hereingekommen. Aber es wär so was für Euch, Fagin, ich müßt mir schon sehr irren.«

Fagin schienen diese Worte sehr zu interessieren. Er stieg auf einen Stuhl, legte vorsichtig das Gesicht an die Scheibe und beobachtete Mr. Claypole, der fleißig dem Teller mit dem kalten Fleische und einem Glas Porter zusprach, dabei Charlotte nur homöopathische Dosen der beiden Genußmittel verabreichend.

»Hm,« flüsterte Fagin, sich nach Barney umsehend, »mir gefällt der Bursch. Er wird uns noch nützlich werden. Der weiß doch jetzt schon in jungen Jahren, wie mer e Mädel zu behandeln hat. Sein Sie still[313] jetzt und lassen Se mal hören, was die zusammen schmusen.«

Er legte wieder das Auge an die Scheibe und das Ohr an die Scheidewand und horchte gespannt mit gierigem verschlagenem Ausdruck im Gesicht, so daß er aussah wie ein alter Kobold.

»So, jetzt hab ich vor, den feinen Herrn zu spielen,« sagte Mr. Claypole und streckte die Beine weit aus. »Jetzt wird nicht mehr von alten Särgen geschwätzt, Charlotte, und wenns dir paßt, kannst du eine feine Dame werden.«

»Das möcht ich gewiß, mein Junge, nur allzu gern,« seufzte Charlotte, »aber nicht jeden Tag kann man einen Geldkasten ausräumen und auch alle Tage kommt man nicht so heil davon.«

»Ach was, Geldkasten hin, Geldkasten her, ins Feuer damit,« sagte Mr. Claypole. »Es gibt noch andre Sachen, die man ausräumen kann, als Geldkisten.«

»Was denn für welche?« fragte Charlotte.

»Taschen, Damenretikules, Wohnungen, Postwagen, Bankinstitute,« zählte Mr. Claypole auf und erhob sich mit dem Bierglas in der Hand von seinem Sitz.

»Aber das kannst du doch nicht alles machen, mein Liebling,« wendete Charlotte ein.

»Ich werde mich nach entsprechender Gesellschaft umsehen,« erwiderte Noah. »Es werden sich schon Leute finden, die uns, so oder so, brauchen können. Du wiegst doch selber so fufzig Frauenzimmer auf. Ich hab in meinem ganzen Leben noch kein so ein durchtriebenes Mensch gesehen, wie du es bist.«

»O Gott, wie nett du reden kannst,« rief Charlotte und drückte ihm einen Kuß auf sein scheußliches Gesicht.

Mr. Noah machte sich würdevoll von ihr los. »Weißt du, was ich gern möchte,« fing er wieder an. »So das Oberhaupt werden von irgendeiner Bande und die Kerle malträtieren und hinter ihnen her sein, ohne daß es einer auch nur merkt. Das wär so das Richtige für mich, aber rentieren müßt es sich, und zwar sehr. Wenn wir mit ein paar Leuten von der Sorte in Berührung kommen könnten, dann wärs nicht zu[314] teuer bezahlt, die zwanzig Pfundnote, die du stibitzt hast, dafür anzulegen.«

Dabei steckte Mr. Claypole mit der Miene tiefster Weisheit sein Gesicht in den Bierkrug, schüttelte den Inhalt kräftig, nickte Charlotten gnädig zu und goß sich einen mächtigen Schluck hinter die Binde. Er überlegte eben, ob er noch einen zweiten Schluck machen sollte, da ging die Türe plötzlich auf und ein Fremder trat herein.

Dieser Fremde war Mr. Fagin. Er sah außerordentlich leutselig und liebenswürdig drein, machte einen tiefen Kratzfuß beim Nähertreten und setzte sich an den Nebentisch, bei dem grinsenden Barney sich etwas zum Trinken bestellend.

»E schener Abend, heinte, Sir. Aber es is eppes kalt,« sagte Fagin und rieb sich die Hände. »Se kommen wol vom Land, wie jach seh.«

»Wieso sehen Sie das?« fragte Noah.

»Mir haben doch in ganz London nix ä so viel Staub, wie Sie da auf de Fieß haben,« erwiderte Fagin und deutete auf die Schuhe des Pärchens.

»Sie sind ein gescheiter Mensch,« lobte Noah. »Hast du gehört, Charlotte?«

»Hat man netig, lieber Freund, in so aner Stadt wie London gescheint zu sein,« versetzte der Jude und dämpfte seine Stimme zu vertraulichem Flüstern. »Ich soll ä so leben.«

Dabei schlug sich Fagin mit dem rechten Finger aufs Nasenbein, und Noah bemühte sich sogleich, die Gebärde instinktiv nachzuahmen, was ihm aber mißlang, da seine Nase zu klein war. Immerhin erblickte Mr. Fagin in dem Bestreben, es ihm gleichzutun, ein Zeichen vollkommener Übereinstimmung mit seiner Meinung und ließ die Schnapsflasche, die Barney inzwischen hereingetragen, in leutseliger, gastfreundschaftlicher Weise kreisen.

»Ein guter Tropfen,« brummte Mr. Claypole, mit den Lippen schnalzend.

»Teier, sag' ich Ihnen,« sagte Fagin, »teier! Den ganzen Tag muß man Sachen ausreimen: e Geldkasten, e Tasche, e Damenretikule, e Wohnung, e Postkutsche[315] oder e Bankinstitut, wenn mer so was regelmäßig trinken will.«

Mr. Claypole hatte kaum die Wiederholung seiner eigenen Worte gehört, als er zurücksank, das Gesicht so weiß wie der Kalk an der Wand, dabei entsetzt von dem Juden zu Charlotte hinüberblickend.

»Machen Se sich nix daraus, lieber Freind,« sagte Fagin und rückte näher. »E Glick ist es gewesen, daß bloß ich Sie hab gehert durch Zufall. E großes Glick, das kann ich Ihnen sagen.«

»Ich hab's nicht gestohlen,« stammelte Noah, der jetzt nicht mehr wie vorher seine Beine ausgestreckt, sondern sie vergrämt unter dem Stuhl versteckt hatte. »Sie ist es ganz allein gewesen. Sie ganz allein hat's getan. Du hast das Geld ja noch immer bei dir, Charlotte, du weißt doch. Du weißt es ganz gut.«

»Wer's bei sich hat, oder wer's gestohlen hat, mei Freind, das ist ganz gleichgiltig,« versetzte Fagin und schielte wie ein Habicht nach dem Mädchen und dessen Bündel. »Ich reis' doch selber in der Branche, deswegen habt ihr beide mir so gefallen.«

»In was für einer Branche?« fragte Mr. Claypole, langsam wieder zu sich kommend.

»Ich will damit sagen, ich betreib doch denselben Handel wie ihr, mei Freind,« erklärte Fagin, »und das tun alle Leinte hier im Hause. Sie haben die Sache richtig getroffen. Sie sind hier so sicher wie nur irgendwo auf der Welt. Auf der ganzen Erde ist kei Platz, wo's sicherer wär, als hier bei die drei Krippel, das heißt: wann es mir paßt, daß ihr hier sicher seid. Was soll ich sagen? Ich hab an eich beiden e Narren gefressen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«

Mr. Claypole rutschte und drehte sich immer noch auf seinem Sessel und konnte vor Furcht und Argwohn keinen Blick von dem Juden wenden.

»Ich will eich noch was weiteres sagen,« fuhr Fagin fort, der inzwischen durch freundliches Zunicken das Mädchen wieder beruhigt hatte. »Ich hab' en guten Freind, der, wenn ich nicht irr, eiern Wunsch erfüllen kann und eich ins Geschäftsleben einfihrt und dabei doch weit unter eich stehen wird.«[316]

»Sie reden ganz, als wenn's Ihnen wirklich ernst wäre,« faßte Noah Claypole Mut zu sagen.

»Auf was herauf sollt ich anders reden?« fragte Fagin und zuckte die Achseln.

»Schaff jetzt das Gepäck hinauf!« befahl Noah. »Und sieh nach den andern Bündeln.«

Sein im kategorischen Ton gegebener Auftrag wurde sofort ausgeführt. Charlotte drückte sich, so geschwind sie konnte, mit ihrer Bürde und Noahs Gepäck aus der Gaststube die Treppe hinauf, wobei Noah die Türe offen hielt und sie hinausließ, um ihr dann noch lange nachzublicken.

»Ich hab' sie ziemlich gut dressiert, was?« fragte er im Ton eines Menageriebesitzers, der sich etwas darauf zugute tut, irgendeine wilde Bestie gezähmt zu haben, und machte es sich auf seinem Stuhl bequem.

»Soll ich e so leben,« versetzte Fagin und klopfte ihm vertraulich auf die Schulter. »Sie sind e Genie, mei lieber Freind.«

»Ich glaube, wenn ich nicht so etwas Ähnliches wär, würde ich nicht hier sein,« versetzte Noah stolz. »Aber wenn Sie sich jetzt nicht eilen mit dem, was Sie sagen wollen, dann ist sie schneller wieder hier, als sie gegangen ist.«

»Nu also, was meinen Sie zu dem, was ich Ihnen gesagt hab?« fragte Fagin. »Wenn Ihnen mei Freind paßt, können Sie nichts Besseres tun, als mit ihm in Kompagnie zu gehen.«

»Ist das Geschäft gut? Darauf kommt alles an,« erwiderte Noah und zwinkerte mit seinen Rattenaugen.

»Püh,« rief der Jude. »E umsichtiger, e kapitaler Mensch, der vielen Leiten Beschäftigung und Arbeit gebt. Er verkehrt mit der allerbesten Gesellschaft, kann ich Ihnen sagen.«

»Mit wem denn?« fragte Mr. Claypole.

»Nicht e einziger Landmann is drunter, und er mecht ihnen auch gar nix nehmen, wenn er jetzt nich e bisserle knapp wär an Hilfskräften,« versetzte Fagin.

»Das wird wohl Handgeld kosten, was?« fragte Noah und klopfte auf seine Brusttasche.

»Ohne Handgeld geht's freilich nicht,« erwiderte[317] Fagin entschieden. »Ohne Handgeld absolut nicht. Zwanzig Pfund.«

»Zwanzig Pfund, – das ist 'n Mordsbatzen Geld!«

»Viel? Wenn man so eine Note anderswo nix unterbringen kann?« versetzte Fagin höhnisch. »Es is doch wohl Nummer und Datum drauf vorgemerkt, was? Und die Zahlung ist auf der Bank eingestellt? Is also nix viel wert, die Note, was? Man wird sie werden schicken müssen übers große Wasser, denn auf der Berse bringt man so was nix unter.«

»Wann kann ich den Herrn treffen?« fragte Noah, betroffen, daß ihn der Jude durchschaut hatte.

»Morgen früh.«

»Wo?«

»Hier.«

»Hm,« hüstelte Noah, »und die Bezahlung? – Wie steht's damit? Ich meine den Lohn.«

»E Leben wie e feiner Mann: Wohnung und Kost frei, Tabak ümsonst und auch der Schnaps frei. Und von alle dem, was Sie verdienen und was verdient das junge Mädel, ist die Hälfte abzuliefern,« erklärte Mr. Fagin.

Ob Mr. Claypole bei seiner angeborenen Habgier auf diese Bedingungen eingegangen wäre, hätte ihn Fagin nicht in der Hand gehabt, ist sehr zweifelhaft. Aber so fügte er sich und sagte, die Bedingungen paßten ihm so weit.

»Das Mädel,« bemerkte Fagin, »wird immerhin instand sein, eppes Tüchtiges zu leisten. Aber an Ihrer Stelle möcht ich mir selber en leichten Verdienst ergreifen.«

»Was zum Beispiel?« fragte Noah. »Es darf nur nicht über meine Kräfte gehen und allzu gefährlich sein, verstehen Sie?«

»Ich hab' Sie doch vorhin reden hören,« sagte Fagin verständnisvoll. »Mei Freind benötigt vor allem en Menschen, der wo gut und tüchtig spionieren kann.«

»Ich wäre nicht abgeneigt,« versetzte Mr. Claypole zögernd, »aber das zahlt sich doch nicht recht aus.«

»Freilich, allerdings,« gab der Jude zu und sann scheinbar nach. »Auszahlen tut sich so was allerdings schlecht.«[318]

»Was meinen Sie also sonst noch?« fragte Noah und faßte ihn ängstlich ins Auge. »Ich meine so etwas hintenherum, was sicher ist und nicht viel gefährlicher, als wenn man zu Hause hockt ...«

»Was halten Sie zum Beispiel von den alten Damen?« forschte Fagin. »Es tragt e hibsches Stick Geld ein, wann man ihnen die Taschen wegschneidet und die Paketerlich und dann um die nächste Ecke davonkratzt.«

»Schreien Sie doch nicht so laut,« sagte Noah und schüttelte den Kopf, »ich glaube nicht, daß das mir läge. Wissen Sie sonst nichts?«

»Warten Sie mal,« sagte Fagin. »Halt: das Schratzen fleddern.«

»Schratzenfleddern? Was ist das?« fragte Mr. Claypole.

»Schratzen,« erklärte Fagin, »das sind die kleinen Kinder, wo man ausschickt mit e halben und e ganzen Schilling zum Einkaufen, und ›Fleddern‹ heißt, ihnen das Geld wegluchsen – die Kleinen haltens doch immer in der Hand, sie sind bereit zum Geben – man stoßt sie e bisserle an, dann fallen se in den Rinnstein, und man bickt sich, usw. usw.«

»Hahaha,« brüllte Claypole, vor Entzücken mit den Beinen strampelnd. »Sehen Sie, das ist das, was mir liegt, bravo.«

»Weiß ich doch,« triumphirte Fagin. »Und e paar gute Plätze gibt's, wo zu jeder Stunde im Tag auf die Weise zu verdienen ist – hahaha! Zum Beispiel in Clamdentown oder an der Battlebridge und da herum.«

Dabei stieß Mr. Fagin Noah Claypole in die Seite, und beide brachen in ein langes Wiehern aus.

»Da wären wir also in Ordnung,« sagte Noah, als er wieder zu Atem kommen konnte und Charlotte bereits eingetreten war. »Um welche Stunde morgen gehen wir's an?«

»Paßt es Ihnen um zehn?« fragte Fagin und setzte, als Noah nickte, hinzu: »Welchen Namen darf ich meinem Freinde nennen?«

»Mr. Bolter,« stellte sich Noah vor, der sich für solche Fälle bereits etwas ausgedacht hatte, »Mr. Morris Bolter. Das Frauenzimmer da ist Mrs. Bolter.«[319]

»Gehorschamster Diener, gnädige Frau,« spöttelte Fagin und krümmte sich ehrerbietig, »ich hoffe in recht kurzer Zeit noch weiter die Ehre Ihrer näheren Bekanntschaft zu haben.«

»Hörst du, Charlotte, was der Herr sagt!« herrschte Noah das Mädchen an.

»Ja, lieber Noah, ja,« antwortete Mrs. Bolter.

»Sie nennt mich Noah: so ne Art Rosename,« erklärte Mr. Morris Bolter – vulgo Claypole –, sich an Fagin wendend. »Sie verstehen doch?«

»Gott! Ich und nicht verstehen!« erwiderte Fagin. »Güte Nacht, güte Nacht.«

Quelle:
Dickens, Charles: Oliver Twist. München 1914, S. 310-320.
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