5.

[125] (Marchesi's Goethe in der Bibliothek)


Hier laßt ihn bleiben in der kühlen Halle,

Im Vorhof freier Kunst und Wissenschaft;

Stellt ihn nicht hin, ein Schaugericht für alle,

Ihn, der dem Pöbel stets sich stolz entrafft!


Wer nach ihm sucht, wird ihn zu finden wissen,

Steht er auch nicht auf offnem Markte aus,

Nur gebt ihn Eurer Nächte Finsternissen

Nicht preis und Eurer ew'gen Winter Graus!


Ihr lest es klar in diesen Marmorzügen,

Im Lächeln, das die Grazien geweiht:

Allein den Besten seiner Zeit genügen,

Das war ihm Trost und das Unsterblichkeit.


O du, der Deinen Liebe kaum erreichbar,

Wie drückst du in den Staub wer dir sich naht![126]

Wie herrlich, dem Olympier vergleichbar,

Thronst du in deinem Hohenpriesterstaat!


Seht dieser Glieder Füll' und Mannesstärke,

Die Wölbung dieser lebensreichen Brust,

Die breite Stirn, die Wiege seiner Werke,

Des Nackens Hoheit, frei und selbstbewußt,


Des Mundes Anmut, selbst im Steine lebend,

Des Heldenleibes selig-feste Ruh';

Noch flattern, leicht wie Schatten um ihn schwebend,

Gedanken diesen vollen Schläfen zu.


So dachte ihn, so malte ihn die Liebe

Und fügsam folgte Künstlers Meißel ihr;

Ja, wenn uns nur dies eine Bildnis bliebe,

Wir hätten doch das treueste von dir.


Wie anders aber, da ein wirklich Leben

In Schritt und Blick und Wort dies Bild noch trug,

Da dieser Geist noch schuf in mächt'gem Weben,

Da dieses Herz in warmen Pulsen schlug!


O daß ich damals mich mit Flügelschnelle

Zur Pilgerfahrt nach Mekka nicht geschickt,

Daß nie mein Knie an deines Zimmers Schwelle,

Der heiligen Kaaba sich gebückt!


Ein Knabe war ich, als die Trauerkunde

Von deinem Tode durch die Lande scholl,

Noch weiß ich, wie ich sie mit bangem Munde

Nachlallte, Herz und Auge übervoll.


Nun kann ich vor dein totes Bild nur treten,

Freudlos strömt meiner Liebe Schatz sich aus,

An deiner Fürstengruft nur darf ich beten

Und weinend gehn durch dein verwaistes Haus.


Ach wie ein Kind, ein müdes, lehn' ich neben

Dem Marmorblock, der deine Züge trägt,

Und meine Lippe drückt mit stummem Beben

Auf deine Hand sich, heiß und tiefbewegt.
[127]

Ein Schauer rieselt aus des Steines Kühle

Durch Hirn und Blut mir, wie ein kalter Schlag,

Und aufgerührt mit wechselndem Gefühle

Zuckt meine Seele dieser Strömung nach.


Was in mir war, Unlauteres und Wildes,

Ward fortgeflößt von diesem Geisterkuß,

Ein neues Leben rinnt, ein reines, mildes,

Durch meiner Adern friedlicheren Fluß.


Du bist mir nahe, ich empfand dein Walten,

Beschwichtigt schwieg der Drang der Welt in mir,

Ein lichter Kreis verheißender Gestalten

Grüßte, wie Zukunftsträume, mich von dir.


Die Stätt' ist heilig – Löset mir die Schuhe,

Hier fall ich nieder, wo ein Gott geweilt;

Als sein Vermächtnis säuselt sel'ge Ruhe

Durch diesen Tempel, allen mitgeteilt.


Nun laßt mich mit dem Dichterschwure scheiden,

Den ich ihm gab als dieser Stunde Pfand!

Ist er gelöst durch Taten und durch Leiden,

Dann wieder küss' ich meines Meisters Hand.

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 125-128.
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