2.

[208] Wir saßen im Wagen zu Drei oder Vier,

Ein verschleiertes Weib gegenüber mir.


Der Mond schien hell zum Fenster herein

Und floß um ihr Haupt wie Heiligenschein.


Es war so heimlich drinnen, so traut,

Ringsum in der Nacht kein Licht, kein Laut.


Nur die Räder knarrten in sandigem Gleis,

Und die ledernen Polster seufzten leis.


Wer bist du, fremdes, liebes Gesicht

Mit dn dunkelen Augen im Mondenlicht?


O halte die Blicke nicht abgewandt,

Du bist einsam wie ich, komm, reich mir die Hand!


Und lehn an meine Schulter Dich an,

Wenn die müde Stirn nicht mehr wachen kann!


Ich hörte sie atmen, ruhig-tief,

Der Busen wogte, – das Mädchen schlief ...


Ein Stunde, so hielt der Wagen an,

Am Schlage harrte ein großer Mann.


Das Posthorn klang, das Mädchen erwacht, –

Ein Grüßen, ein Küssen scholl durch die Nacht.
[208]

Sie hatten sich wieder, ein liebend Paar,

Sie herzten sich, daß ein Freude war.


Der Schleier entfiel, das Mondenlicht

Beleuchtete hell ein Engels-Gesicht.


Ich sah es von fern, mein Herz war voll,

Eine Träne heiß aus der Wimper quoll.


Und als der Wagen von dannen flog,

Da stunden umschlungen die Beiden noch.


Ich fuhr allein hinaus in die Nacht, – –

Ach Gott! wär sie nimmer, nimmer erwacht!

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 208-209.
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