Am Palmsonntage

[603] Der Morgentau will steigen,

Sind denn die Palmen grün?

Auf, laßt mit hellen Zweigen

Uns ihm entgegenziehn!

Er will in unser Haus,

In unsre Kammern kommen;

Schon ziehen rings die Frommen

Mit Lobgesang heraus.


Ich kann nicht mit euch gehen,

Mir ist der Odem schwer;

Die Kreuzesfahnen wehen,

Ich folge nimmermehr.

Wie wird so klar die Luft!

O Jesu, süße Helle,

Du kömmst in meine Zelle,

In meine Modergruft!
[603]

Was soll ich dir bereiten,

Du wunderlicher Gast?

Ich möchte dich verleiten

Zu langer Liebesrast.

Wohlan, ich schmücke dich,

Will dich mit Blumen binden;

Du sollst dich nicht entwinden,

Das weiß ich sicherlich.


Aus deiner Mutter Rechten

Will ich um deinen Fuß

Die reine Lilie flechten

Mit demutsvollem Gruß.

Daß ich dich feßle ganz

Mit Liebesblumenringen,

Will um dein Haupt ich schlingen

Den heil'gen Rosenkranz.


Den Boden will ich streuen

Mit Palmen ganz und gar,

Mein Leiden dir zu weihen,

Was ich in diesem Jahr

Oft still, oft schwerer trug.

Es liegt zu deinen Füßen,

Es soll mich nicht verdrießen,

Dein Will' ist mir genug.


Wie soll ich mich doch finden

In deine Liebesmacht,

Daß du an meine Sünden

So gar nicht hast gedacht!

Ich lasse nicht von dir,

Mußt du gleich wieder scheiden;

Ich fühl' es wohl in Freuden,

Du kömmst noch oft zu mir.
[604]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 603-605.
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