[642] Ev.: Vom reichen Manne.
Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne, und Lazarum in seinem Schoße. – Er sprach zu ihm: »Hören sie Mosen und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob jemand von den Toten auferstände.«
Doch zu dem Reichen
Sprach Abraham: »Und hörten nie
Sie Mosen noch Prophetenschar,
Dann wahrlich nimmer glauben sie,
Stellt sich ein Toter ihnen dar.«
So ward die Scheidewand gelegt,
Und auf den Grabstein hat geprägt
Die Ewigkeit ihr stummes Zeichen.
Wie brünstig flehend
Hab' ich so oft in mancher Nacht
An meine Toten mich gewandt!
Wie manchen Stundenschlag bewacht,
Wenn grau und wirbelnd lag das Land!
Und nicht ein Zeichen ward mir je,[642]
Kein Knistern in des Lagers Näh',
Kein Schimmer längs den Wänden gehend.
Hab' ich's gefunden
Doch hart und lieblos manches Mal,
Daß das, dem ich so heiß geneigt,
Nicht einen Laut für meine Qual,
Kein Zeichen hatte noch so leicht.
An ihrer Statt, so dünkte mich,
Würd' alles, alles wagen ich,
Zu lindern des Geliebten Wunden.
Ihr konntet's nimmer!
Ausfechten sollen wir den Kampf
Und bleiben dem Geschick die Macht.
Ich fühl' es wohl, der Seele Krampf
Zerrinnen müßte mit der Nacht,
Ja mit dem letzten Nebeltraum
Zerfließen muß des Bösen Schaum,
Drum bleibt die Wahrheit nur ein Schimmer.
O mög' uns bleiben
In diesem grau und trüben Stand,
Wo Schatten lagern überm Licht,
Nur reiner Liebesfackel Brand;
Dann sind wir auch verlassen nicht!
Und wie das Schiff in wüster See,
Vertrauend auf des Pharus Näh',
Mag unser Kahn zum Hafen treiben.
Dem reichen Manne
Sprach nicht ein Wort von Zweifels Not
Die schreckliche Verdammnis aus;
Nein nur das ungebrochne Brod,
Als ächzend lag vor seinem Haus
Der Arm' und Sieche, dies allein[643]
Hat lastend wie ein Mühlenstein
Ihn fortgewälzt zu Pein und Banne.
Hier steht die Stelle:
»Und als er in die Qualen kam,
Da hob die Augen er empor,
Sah in der Ferne Abraham,
Umgeben von der Heil'gen Chor,
Und Lazarum in seinem Schoß
Der Schwären frei, der Plagen los.«
Er aber – er war in der Hölle!
Buchempfehlung
Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro