Das Ich, der Mittelpunkt der Welt

Jüngst hast die Phrase scherzend du gestellt:

»Wer Reichtum, Liebe will und Glück erlangen,

Der mache sich zum Mittelpunkt der Welt,

Zum Kreise, drin sich alle Strahlen fangen.«

Dein Wort, mein Freund, war wie des Tempels Tür:

Die Inschrift draußen und das Volksgedränge,

Und durch die Spalten blinkt der Lampen Zier,

Ziehn Opferduft und heilige Gesänge.


Wie könnte jemals wohl des Glückes Born

Aus andrem als dem eignen Herzen fließen,

Aus welcher Schale wohl des Himmels Zorn

Als aus der selbstgebotnen sich ergießen!

O glücklich sein, geliebt und glücklich sein –

Möge ein Engel mir die Pfade deuten!

Da schwillt des Tempels Vorhang, zart und rein

Hör' ich's wie Echo durch die Falten gleiten.


»Standest an einem Krankenbett du je

Nach wochenlangen selbstvergeßnen Sorgen,

Hobst deine schweren Wimper in die Höh'

Zu einem Dankgebete nach dem Morgen,

Und sahst um des Genesenden Gesicht

Ein neuerwachtes Scelenschimmern schweben

Und einen Liebesblick auf dich, wie nicht

Ihn Freund und nicht Geliebte können geben?


Hieltest du je den Griffel in der Hand

Und rechnetest mit frohem Geiz zusammen

Die Groschen, die du selber dir entwandt,

Schien jeder Heller dir wie Gold zu flammen

Des Schatzes für den fremden Sorgenpfühl,[430]

Um den du deine Freuden schlau betrogen,

Und hast in deines Reichtums Vollgefühl

Tief, tief den Odem in die Brust gezogen?


Und der Moment, wo eine Rechte schwimmt

Ob teurem Haupte mit bewegtem Segen,

Wo sie das Herz vom eignen Herzen nimmt,

Um freudig an das fremde es zu legen:

Hast du ihn je erlebt und standest dann,

Die Arme still und freundlich eingeschlagen,

Selig berechnend, welche Früchte kann,

Wie liebliche das neue Bündnis tragen?


Dann bist du glücklich, bist geliebt und reich,

Ein Fels, an dem sich alle Blitze spalten,

Dann mag dein Kranz verwelken, mögen bleich

Krankheit und Alter dir die Stirne falten;

Dann bist der Mittelpunkt du deiner Welt,

Der Kreis, aus dem die Freudenstrahlen quillen,

Und was so frisch der Bäche Ufer schwellt,

Wie sollte seinen Born es nicht erfüllen!«


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 430-431.
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