[Schon krallen sich Leiber hervor aus den Schluchten]

[42] Schon krallen sich Leiber hervor aus den Schluchten.

In Brunst sind die beiden Geschlechter verbunden.

Sie halten sich krampfhaft beim Werden umwunden

Und müssen sich unbewußt kletternd befruchten.


Erst dann, wenn die Flammen am Erdball verglimmen,

Die Meere verflachen, mit Höhn sich bedachen,

Kann helles Gewahren im Menschen erwachen.

Und schnelles Gebahren das Dasein bestimmen.


Nun klettern rings Körper auf Zacken wie Zunder;

Doch hätte auf einmal der Ball sich beschwichtigt,

So würde die Lage im Schlage berichtigt,

Und jedes geschäh, wie dereinst, durch ein Wunder!


Jetzt scheinen die Rassen hier Boden zu fassen.

Es zwängt diesen Trichter ein eigenes Gemenge

Von allerlei Kliffen in buntem Gepränge,

Und Farbe und Ausdruck erwerben die Massen,


Von felsigen Grund, den sie senkrecht erstürmen;

Sie streben empor zum beleuchteten Grade

Und färben sich kletternd, auf kantigem Pfade,

Um, aufwärts vom Grade, die Glieder zu thürmen.
[42]

Die Haut scheint durch innere Gluth zu verblassen,

Drum seh ich auch deutlich das Leibergeranke:

Jetzt walzt es und ringt es sein Sonnengedanke

Empor aus dem Trichter, als wulstige Massen.


Der Haarwuchs bedünkt mich ein wuchtiger Schatten

Am Menschen, der schreitend die Sonne ersehne!

Drum fallen vom Haupte die nächtlichen Strähne

Zum Schlunde zurück, wie ein weiches Ermatten.


Pechschwarz sind die Haare von jeglicher Rasse.

Sie wallen zu Boden wie riesige Schleppen.

Die Rothhäute schleifen sie längst über Steppen,

Denn diese erklommen zuerst die Terrasse.


Sie stiegen auf härtestem, altem Granite,

Der röthlich sie färbte, gewandt bis zum Lichte.

Schon folgen die kleineren, braunrothen Wichte

Den Spuren der Starken im Nachbargebiete.


Auch scheint sich im Trichter ein Stamm zu verbohren!

Er möchte der Lichtkegel steilsten erklettern,

Doch müssen die meisten entgleisen, zerschmettern,

Die übrigen bleiben schwarzlockige Mohren.


Nun endlich erklimmen die hellsten die Spitzen.

Doch steigen sie weiter auf endlosen Lehnen.

Das Schicksal bestimmt sie zu ewigem Ersehnen,

Zum schweifenden Zweifel und kurzen Besitzen.


Die gelben hingegen, am Rande der Spalte,

Bestreben sich muthig die Flur zu erreichen:

Ich sehe sie tapfer Kamine durchschleichen,

Sie trotzen dem spröden und glatten Basalte.
[43]

Sie klettern gar rüstig. Sie harren am längsten

Und athmen den Schwefel vulkanischer Dämpfe.

So fördern die Völker bewußtlose Krämpfe

Und streben noch immer, gefeit vor Sturzängsten!

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 42-44.
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