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[657] Im großen Speisesaal des Gasthofes »Zum weißen Lamm« war ein Tisch für die Beamten gedeckt. Oben an der Tafel, zwischen dem Finanzrat und dem Finanzsekretär, erhielt Andreas seinen Platz. Als er ihn einnahm, bemerkte er mit Überraschung, daß sich auf seinem Teller ein großer Vogel niedergelassen hatte, der eine frische Rosenknospe im Schnabel trug.

Dieser Vogel war aber nichts anderes als Muths sinnreich zusammengelegte Serviette. Ja, das mußte man ihm lassen: im Serviettenfalten besaß der Oberkellner im »Lamm« eine eigene Kunstfertigkeit, und den Festgebern war es angenehm, daß er sie heut ausgeübt zu Ehren des Jubilars.

Andreas blickte gerührt im Kreise seiner Kollegen umher. Er hätte nicht gedacht, daß sie ihn liebten. Er hatte sich immer fern von ihnen gehalten, kaum manchmal dem oder jenem einen kleinen Dienst erwiesen. Und nun gaben sie ihm ein so offenkundiges Zeichen ihrer freundschaftlichen Gesinnung! Er war zu bewegt, um sprechen, essen oder trinken zu können, aber er fühlte sich über die Maßen geehrt und suchte vergeblich zu begreifen, warum es ihm nicht gelang, recht froh zu werden. Doch nagte etwas an seinem Herzen wie das dumpfe Bewußtsein eines Unglücks, etwas, das meltauartig auf seine Lebensfreude gefallen war und sie vernichtet hatte bis auf den Grund.

Dann quälte ihn die Frage, ob er nicht betrügt, indem er Achtungsbeweise von achtungswerten Männern entgegennimmt, die ihm diese vielleicht versagen würden, wenn sie wüßten, daß er es ist, dessen Schmach in einem großen öffentlichen Blatte am selben Morgen verkündigt worden war.

Wenn sie wüßten – dachte er. – Wenn sie wüßten!

Unweit des Tisches der Beamten hatte eine kleine, aber laute Gesellschaft sich angesiedelt, und der Sekretär wechselte wiederholt mit einem ihrer Teilnehmer Grüße und Winke. Jetzt beugte er sich zu Andreas und flüsterte ihm zu: »Sehen Sie sich um, dort sitzt Salmeyer, wissen Sie, der Verfasser des Feuilletons, über das wir so sehr gelacht haben.«

Ein kalter Schauer lief über den Rücken des Angeredeten,[657] und er starrte den Sekretär mit solcher Bestürzung an, daß dieser unwillkürlich ausrief: »Was haben Sie denn?«

Die Antwort blieb aus; statt ihrer ertönte ein mächtiges: »Meine Herren!« durch den Saal. Finanzrat Seydelmann hatte sich erhoben, das Champagnerglas in der Hand, und blickte mit majestätischer Ruhe im Kreise seiner Untergebenen umher, die sich beeilten, gleichfalls aufzustehen.

Andreas ahnte, was nun folgen würde, und hätte den Boden beschwören mögen, ihn zu verschlingen. Er kam sich vor wie erdrückt zwischen Ehre und Schande, beide zu groß, um ertragen zu werden von ihm, dem schwachen Manne, beide weit über sein Verdienst und über seine Schuld ...

Seydelmann hielt eine stattliche Rede, in welcher er Muth dreimal Gerechtigkeit widerfahren ließ: als Menschen, als Kollegen und als Staatsbeamten, und schloß mit den geflügelten Worten: »Stimmen Sie mit ein, meine Herren, in das freudige ›Glück auf!‹ das ich dem von uns Gefeierten zurufe: – Er lebe hoch!«

»Er lebe hoch!« schallte es aus den Kehlen der ganzen Tischgesellschaft, laute Fröhlichkeit hatte sich ihrer bemächtigt.

»Sie müssen antworten«, flüsterte der Sekretär Andreas zu, und der raffte sich auf. Aber statt des Glases erhob er nur die flehend gefalteten Hände: »Schonen Sie meiner, hochverehrte Herren – haben Sie Nachsicht – haben Sie Dank!... Mögen Sie selbst hochleben, viel höher als ich – Sie – Sie alle!« brachte er mühsam hervor.

Es steht in Frage, ob jemand hörte, was Andreas gesagt hatte; daß sich jedoch ein allgemeiner Jubel erhob, als man ihn nicht mehr sprechen sah, ist gewiß. Die Beamten wurden immer munterer und dachten noch nicht daran, aufzubrechen, als sich ihre Nachbarn am kleinen Tische schon zum Fortgehen anschickten. Salmeyer ging mit den anderen. Gottlob! – die Luft im Zimmer wird minder drückend sein, wenn er fort ist ... Er stand schon an der Türe, da rief ihn der Sekretär zurück – er kam, sie schüttelten einander die Hände. Der Literat wurde den übrigen Beamten vorgestellt, eingeladen, Platz zu nehmen und ein Glas Wein zu leeren auf das fernere Gedeihen seines Witzes, von dem Proben zu zitieren der Sekretär nicht müde wurde.[658]

Das ihm gespendete Lob schien Salmeyer weniger zu schmeicheln als zu belustigen. Er ließ es über sich ergehen wie etwas, das man zwar nicht brauchen kann, aus Höflichkeit jedoch hinnimmt.

»Und Ihr heutiges Feuilleton«, rief sein Bewunderer, »das ist prächtig, hören Sie. Es mag keine kleine Kunst sein, über ein langweiliges Theaterstück eine kurzweilige Kritik zu schreiben.«

»Ja«, erwiderte Salmeyer, »die Kritik ist gut. Und wenn Sie erst die Pointen« – er sprach po-ïn, verlieh dem i zwei Pünktchen – »kennen würden, die darin angebracht sind! – Freilich versteht man diese nur dann recht zu würdigen, wenn man weiß, wer sich hinter dem Pseudonym Karl Stein verbirgt.«

Andreas schrak zusammen.

»Wer ist es? Können Sie uns das nicht sagen?« fragte der Sekretär und erhielt zur Antwort: »O ja! Es ist der Gemahl der noch jetzt berühmt schönen Mathilde Auwald. Der Graf Hieronymus von Auwald.«

»Wer?!« schrie Andreas laut auf, und viele Stimmen riefen durcheinander: »Der Graf von Auwald?« – »Der berühmte Dichter?« – »Der gefeierte Redner?« – »Der Führer der Liberalen?«

»Ja, ja«, sagte Salmeyer mit überlegenem Lächeln, »alle diese Eigenschaften spricht ihm der Volksmund zu. Was es damit in Wahrheit auf sich hat, lassen wir dahingestellt sein ... Ich meine, sein Liberalismus und seine Schriftstellerei sind der Blinde und der Lahme, die wir aus dem Fabelbuche kennen; allein käme keiner ans Ziel. In seinen Gedichten, die von Freisinnigkeit triefen, war er nicht anzugreifen – mit seinem tendenzlosen Drama aber ...«

»Woher vermuten Sie«, unterbrach ihn Andreas mit beklommenem Atem, »daß dieses Drama von ihm sei?«

»Aus dem Pseudonym auf dem Komödienzettel!« entgegnete Salmeyer. »Es ist dasselbe, unter dem sein erstes, jetzt vergessenes Epos erschien.«

»Dasselbe?« stammelte Andreas, und der Literat fuhr fort: »Mit einem tendenzlosen Drama, sage ich, und mit der Anonymität, hinter der er sich versteckt, fordert er die rücksichtslose Kritik heraus. – Nun – sie erscheint. So hoch stehen die Kunstwerke[659] des gräflichen Jakobiners doch nicht, daß es unmöglich wäre, ihnen beizukommen. Seine Exzellenz wird gestaunt haben über die zweischneidige Klinge, die wir führen. Bei jedem Streiche blutet entweder der Staatsmann oder der Poet. – Das schönste ist, wie ich ihm aus seinem Werke heraus beweise, daß seine großen Fähigkeiten nicht minder als seine Grundsätze zweifelhafte Dinge sind ...«

»Aus seinem Stücke heraus beweisen Sie ihm das?« fragte Andreas, und alle Anwesenden erschraken über den verzweiflungsvollen Ausdruck in seinen Zügen.

Salmeyer schaukelte sich auf seinem Sessel und erwiderte mit selbstbewußter Ruhe: »Unwiderleglich.«

»Wenn Sie das getan haben, so sind es wenigstens nicht die Fähigkeiten und Grundsätze des Grafen von Auwald, die Sie damit anzweifeln«, sagte Andreas. Seine Lippen bebten, und mit Mühe setzte er die Worte hinzu: »Sondern die meinen.«

»Die Ihren? – Was heißt das?... Ich bitte um Deutlichkeit ... Developpieren Sie sich!« scherzte Salmeyer.

Andreas antwortete ihm nicht; er richtete sich an seine Kollegen, die voll Spannung zugehört hatten, und sprach festen Tones: »Das Schauspiel Marc Aurel ist von mir.«

»Von Ihnen?« – »Was Teufel?« – »Sie machen schöne Geschichten!« erscholl es ringsumher.

»Mystifikation der Presse!« schrie Salmeyer. »Ich habe die Presse nicht mystifizieren wollen«, beteuerte Andreas. »Ich habe dieses Stück, wie schon manches andere vorher«, schaltete er errötend ein, »unter dem Pseudonym Karl Stein eingereicht, weil es mir unbekannt war, daß der Graf von Auwald diesen Dichternamen geführt hat.«

Finanzrat Seydelmann hatte sich gegen Andreas gewendet, als jener seine Erklärung abgab, und ihn unverwandten Blickes angestarrt. Jetzt machte er mit seiner breiten Hand eine prächtig einleitende Bewegung und hob in feierlichem Tone an: »Sie müssen, Herr Muth, es bleibt Ihnen jetzt nichts anderes übrig, Sie müssen sich öffentlich als Verfasser des Marc Aurel bekennen.«

»Ich bin dazu bereit«, erwiderte Andreas.[660]

»Überlassen Sie das mir! Ich will's besorgen!« rief Salmeyer. Er war im Zweifel gewesen, ob er die Sache von der komischen oder von der ernsten Seite nehmen solle. Jetzt entschied er sich für das erstere und brach plötzlich in ein schallendes Gelächter aus. Dann entschuldigte er sich angelegentlich und nicht ohne Liebenswürdigkeit bei dem, wie er sagte, »zustande gebrachten Dichter«. Die Stimmung der ganzen Gesellschaft wurde bald wieder munter und ungemein günstig für Andreas, dessen Traurigkeit zu zerstreuen man herzlich beflissen war.

»Seien Sie guten Mutes, guter Muth!« sagte der Sekretär.

»Eine Dummheit muß jeder Mensch im Leben begehen!« setzte der Verwalter treuherzig tröstend hinzu. So treuherzig, daß Andreas mit tief gerührter Dankbarkeit die Hand drückte, die ihm der wohlwollende Mann über den Tisch hinüberreichte.

Quelle:
Marie von Ebner-Eschenbach: [Gesammelte Werke in drei Bänden.] [Bd. 1:] Das Gemeindekind. Novellen, Aphorismen, München 1956–1958, S. 657-661.
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