LXI. Brief

An Fanny

[155] Es ist geschehen, meine Freundin! – Zittere nicht; deine Amalie ist vermählt! – Und nun ist sie aus dem Kloster entflohen. – Die harten Nonnen haben mir meine Bitte abgeschlagen, zu meiner Schwester zu reisen, und was war mir in einer so dringenden Lage anders übrig? – Ich bin undankbar an meinem Oheim geworden, ich habe pflichtlos an ihm gehandelt, und den Nonnen einen Streich gespielt, an [den] sie denken werden! – Ich habe einem Mann mit Zittern die Hand gegeben, dessen dürstende Leidenschaft den entscheidenden Zeitpunkt zu benüzzen wußte! – Ich habe vielleicht unsinnig, rasend gehandelt, und das alles aus Liebe zu meiner Schwester! – Aber eigennüzzig hätte mein Gatte meine Hand nicht erschleichen sollen; es verräth zu viel Liebe zur Befriedigung. Doch, was konnte ich da in so verwirrten Augenblikken viel untersuchen? – Ich sah meine Schwester im Todtengewande vor meinem Bette knieen, ich sah sie im Sarg liegen, sprang hastig aus meinem Schlafzimmer, und kroch im Dunkeln über Stiegen und Brükken, öffnete mit[155] Kühnheit Schlößer und Thüren, achtete nicht des nächtlichen Grausens, das mir durch die Glieder schauerte; und so kam ich eine Stunde vor unserer Abrede in den Klostergarten. Schweiß und Kälte lag auf meiner Stirne, das Rauschen eines jeden Blattes folterte mein Gewißen bis zur Todesangst! – Ich fluchte der Erde, ihren Bewohnern und dem Schiksal! – Ich fühlte Rache gegen die Nonnen im Herzen, weil sie mir meine Bitte abschlugen; und doch zitterte ich vor dem Anblik dieser Schwestern der Fühllosigkeit. – Bang, wie ein entspringendes Reh, irrte ich im finstern Garten herum. Mein Freund Mond hatte sich verhüllt, um meinen Frevel zu bedekken, den ich aus Schwesterliebe begieng. Bald sah ich vor meinen Augen den durch mich gekränkten Oheim, bald den funkelnden Zorn der beleidigten Nonnen, die mir mit Bigottengrausamkeit nachfluchten, sobald sie meine Flucht entdekten. – Mit Seelenangst erwartete ich jede Minute meinen Liebhaber! – Fürchterlich, bis zum Entsezzen tobte der Gedanke der Ungewisheit in meinem Busen. – Wenn er dich nicht heirathet! – Wenn er dich blos entführt und entehrt! – fuhr mir dann bei seinem langen Ausbleiben donnernd durch den Kopf! – Schon hob ich den Fuß um ins Zimmer zurükzukehren, wo das Andenken meines Vergehens unauslöschlich eingeprägt bleiben wird. – Aber eine heilige sympathetische Macht hielt mich zurük. Ich sah meine Schwester mir wieder leibhaft nachschleichen; ich fühlte gleichsam wie sie mich am Rokke festhielt; ich sah sie ihre Hände ringen; ich hörte ihr dumpfes Aechzen; sie bat mich um die lezte schwesterliche Umarmung; ich haschte nach ihr mit leidenschaftlicher Phantasie, als auf einmal der Wurf eines Steines meinen Sinnen wieder Richtung gab! – Ich eilte schnell dem Orte zu, da dieses Zeichen gegeben worden – sank ohnmächtig.... wohin? – in die Arme meines Geliebten! – Mein Herz schlug heftig an seinem[156] Busen; ich bat ihn um Schonung und um Rettung meiner Schwester! – Kampf, Furcht, weniges Zutrauen durchkreuzten meine Seele. – Ich hatte leichte Kleider an, war ohne Schuhe, und der Morgenthau überfiel mich mit einer fieberhaften Kälte. – Meinem Liebhaber war für meine Gesundheit bange; er schwur mir vor Gott, noch eh der Tag anbräche mein Gatte zu werden! – So ließ ich mich fortschleppen, um das unauflösliche Band des Ehestandes zu knüpfen. Er hielt auch Wort; denn ehe zwo Stunden vergiengen, waren wir vermählt. – Berauscht von Liebe und Wollust, taumelten wir einige Stunden fort! – Doch gränzte mein Entzükken mehr an Wehmuth, als an das gewöhnliche Entzükken junger Eheleute! – Mein Gatte machte sich Tages darauf fertig zur Reise nach dem Kloster, wo meine Schwester mit Angst seiner wartete. Er hatte den Entschluß gefaßt, sie gutwillig oder mit Gewalt den Händen der Grausamkeit zu entreißen. – Jede Stunde erwarte ich Briefe von ihm, und schröklich ängstlich sehne ich nach der Entwiklung dieses traurigen Romans! – Theure! – Bleib doch meine Freundin, meine Vertraute im Kummer! Solltest Du in meiner Handlung Schwachheit entdekken, so ahnde sie mit Nachsicht; denn sie kömmt gewiß aus dem beßten Herzen


Deiner Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 155-157.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen