LXXXIX. Brief

An Fanny

[30] Theuerste! –


So einsam mein Aufenthalt auch immer ist, so findet sich doch immer etwas zum plaudern. Durch meine Beobachtungen erweitere ich meine Kenntnisse, und erhalte dadurch eine Beschäftigung, die mich vor Langerweile schüzt. Unter den Menschen findet man überall Stoff genug zum Denken. Unvermerkt lernt man Tugend von Gleißnerei, Schwachheit vom Laster unterscheiden. Wie nüzlich wäre jedem Frauenzimmer Menschen- und Sittenkenntnis. Wie unterhaltend ist dieses Studium für ein denkendes Weib! Die Frauenzimmer wären in der Glükseligkeit zu beneiden, wenn sie ihre müßigen Augenblikke dazu verwendeten. Sie würden eigene Fehler durch fremde kennen lernen, und überall den schlechten Zustand des menschlichen Herzens entdekken. Sie würden auch ihre Stunden weniger mit Puz an der Toilette tödten, und dadurch ihrer sträflichen Eitelkeit eine Nahrung benehmen, die so oft in Laster ausartet. – Sie würden dann aufhören ihre übrige Zeit mit verläumderischer Schwazhaftigkeit zu brandmarken. – Kurz, sie würden denken lernen, und durchs Denken fühlende, nüzliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden. Weibliche Tändeleien, die den Kopf stumpf und das Herz zum Biedersinn unfähig machen, sind die unrühmlichen Beschäftigungen, womit sich unser Geschlecht[30] abgiebt. – Die Weiber sind oft in ihrem fünfzigsten Jahre noch unmündige Kinder, die in ihren eiteln Puz verliebt, vom frühen Morgen bis Nachts damit spielen; leer im Kopf, und fühllos fürs Moralische im Herzen, freuen sie sich einer Arbeit, die blos dem thörichtsten Gott der Mode opfert. – Schöpfer und Pflichten werden über diesen allwichtigen Punkt ihrer Eitelkeit vergessen, und nur selten bleibt ein junges eitles Weib blos eitel. – Ist doch eine Modekleinigkeit im Stande ihr schwaches Herz zu entzükken, um so viel leichter wird es die Schmeichelei eines Stuzzers zum Laster bereden. Die Liebe zum Puz wird unter den Frauenzimmern zur umsichfressenden Seuche, und raubt, unterstüzt vom Eigennuz, ihnen ganz gewis Ehre, Tugend und guten Namen. So viele Weiber machen aus Eitelkeit die Schande ihrer Männer, den Fluch ihrer Eltern und den Abscheu eines ganzen Publikums aus! – Sie wollen durch Verschwendung ihre Larve zum gefallen zwingen, und erkaufen sich diese Reize durchs Laster, um sie wieder zum Laster zu benuzzen. Es ist zum Erbarmen, wenn man unser Geschlecht betrachtet, wie erfinderisch es sich bemühet, durch Körper zu gefallen! – Die Männer werden gleichsam gezwungen, nur nach dem lokkenden Körper zu haschen, weil sie darinn fast überall eine edle Seele vermissen. Die ganze Zeit ihres Lebens an physische Reize gewöhnt, läugnen die Männer sogar die seltene Tugend der Frauenzimmer rundweg. Würden die Frauenzimmer nicht ihre Verehrer blos durch blendende, sinnliche Reize an sich ziehen, so gäbe es nicht eine so große Menge Lotterbuben, die durchgehends dem blosen Genus nachjagen. O Freundinnen! – Bei dem geheiligten Gefühl der Mutterliebe beschwöre ich euch, um das Wohl euerer künftigen Töchter, leitet das verwöhnte Männergeschlecht durch moralische Vorzüge zu der Achtung zurük, die es unserm Geschlecht schuldig ist! – Lehrt es die wahre Liebe im Glanz ihrer göttlichen Zufriedenheit[31] kennen! – Macht das durch Brutalität verwilderte Männerherz sanft, empfänglich für eine Liebe, die der Schöpfer zur Triebfeder alles Guten so wonnevoll in den Bau unsers Körpers legte! – Liebe Freundinnen! – denkt über die Anträge der Männer selbst nach, und lernt genau, Liebe von Wollust, Gutherzigkeit von Galanterie, Temperament von wirklicher Zärtlichkeit unterscheiden. Beide Geschlechter werden dann aufhören unter dem Vorwand der Liebe einander zu hintergehen, und gegenseitige Treue wird in der wahren Liebe das blose schändliche Bedürfnis beschämen, das man außer dieser so thierisch untereinander befriedigt. Gewis, meine Fanny, wenn ich den traurigen Zustand der gegenwärtig herrschenden Mishandlungen, von Afterliebe erzeugt, überdenke, so kostet es mich Thränen, wenn ich sehen muß, daß so viele Unschuldige den schändlichsten Betrügereien ihren Nakken aus Leichtgläubigkeit darbieten. – Jeder Betrug wird doch von den Gesezzen scharf bestraft, aber Betrug in der Liebe ahndet keine Seele, da er doch unter jungen Leuten um tausend Grade stärker als der andere getrieben wird. Man wechselt jezt unter beiden Geschlechtern blos Körper um Körper, und kein leichtsinniger Schurke bedenkt, daß oft die Seligkeit eines beschimpften Mädchens auf dem Scheideweg steht zur ewigen Verdammnis! – Befriedigt sind nun seine Triebe im Schoose einer vertraulichen Unschuld, die, durch Schwüre erweicht, das hingab was an ihr heilig seyn sollte, um dann durch seinen gebrochnen Eid reif zu werden, als Kindermörderin, zum Schaffot! – Schröklich wird Gott einst so einen Bösewicht richten, der mit Tiegergrausamkeit zwei Geschöpfe auf einmal mordete! – Wie er dann da stehen wird, der meineidige Ehrendieb eines gutherzigen Geschöpfs, die von Kunstgriffen besiegt, ihm eine lange Ewigkeit durchflucht! – Gott! – Gott! – wie mich dieser Gedanke hinreißt zum heftigsten Eifer! – Ich muß abbrechen, Fanny! –[32] Mein Herz fühlt zu viel, bei einer Sache, die man in der Welt so häufig antrift. – Gute Nacht für diesmal! – gute Nacht! –


Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 30-33.
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