CXXVI. Brief

An Fanny

[144] Liebe Herzens-Freundin! –


Heute muß ich Dir wieder einmal deinen Willen erfüllen, und Dir etwas mehreres von den guten Einrichtungen unsers wakkern Seipps schreiben. – Bedenke nur einmal diesen Hauptpunkt, der durch seine Klugheit unter uns Weibern so herrlich Statt findet: – Seine eigene Frau spielt neben mir erste Rollen; und doch sezte es unter uns noch nicht den geringsten Streit ab. –

Der unpartheiische Mann weis für uns beide die Rollen so gut einzutheilen, daß auch selbst die ehrgeizigste Schauspielerin nichts dagegen einzuwenden wüßte. – Madame Seipp spielt unschuldige, naive, leidende junge Mädchen allerliebst! – Ihr niedlicher kleiner Wuchs, ihr natürliches Gefühl, ihr Fleiß, ihre durch Lektur erhaltene Kenntnisse machen sie zur guten Schauspielerin. – Hätte sie das Glük eine stärkere Brust zu haben, sie würde sich auch in heftigen, affektvollen Rollen vielen Beifall zu versprechen haben. – Sie hat bei andern Bühnen aus Kabale nur unbedeutende kleine Rollen zu spielen bekommen, wo ihr Talent, so wie das von mancher ihrer Mitschwestern, unerkannt blieb. – Aber seit der Direktion ihres Mannes darf sie es in ihren unschuldigen Rollen kühn wagen, sich jedem Kenner zu zeigen; denn seither wurde das vergrabene Talent in Uebung gebracht, das fähig ist dem Publikum Freude zu machen, – Feurige Heldinnen, rasche Liebhaberinnen, und überhaupt Rollen, worinnen heftige Leidenschaft herrscht, und wozu starke Brust erfodert wird, wurden mir zugetheilt. – Herr Seipp[144] spielt alle Rollen erträglich – aber äußerst gut spielt er feine Intriken-Rollen, gefühlvolle Männer und Väter. – Gott! wie viel der Mann in seiner Deklamazion Natur behauptet! – Was er hineinzudringen weis in die feinste Kunst, um sie durch den herrlichsten Konversazionston zur unleugbaren Natur zu machen! – Wie lebhaft er seine Leidenschaften mit den unbegreiflichsten Abwechslungen hervorbringt! – Wie er seine Organen nach dem Sinn des Autors und nach seinem Gefühl zu stimmen weis! – Wie er die schwersten Erzählungen so ausdruksvoll, von aller Monotonie entfernt, dem Zuschauer vormalt! – Wie er Seele, Gefühl, Feuer, Stimme, Körper, Wendung, Uebergang in seiner Gewalt hat, um das Publikum in gewissen Rollen bis zum lezten Grad der Wahrheit zu täuschen! – Selbst den schiefen Sinn eines schwülstigen Autors, weis er während seines Spiels zu verbessern. – Es ist eine wahre Freude an der Seite dieses braven Schauspielers zu agieren. – Wie oft schmolz sein Gefühl in das meinige über, wenn ich an seiner Seite die Rolle der Tochter spielte, und wie oft gab er meiner arbeitenden Leidenschaft den Nachdruk, der sich dann noch mächtiger in das fühlende Herz des Zuschauers übergoß; und doch ist dieser gute Schauspieler bis izt noch so wenig für seine Verdienste belohnt worden! – Er mußte immer im Dunkeln arbeiten, ohne daß ihn der Posaunenklang hervorzog! – Ei! – Ei! – Theaterglük, wie räthselhaft bist du! –

Doch nun weg von dem, und auch ein Bischen etwas vom hiesigen Orte: – Temeswar ist unstreitig troz des kleinen Umfangs eine der lebhaftesten Städte. – Man ist hier äusserst zum Wohlleben geneigt. Das viele Militär, die Menge gutbesoldeter Beamten, die wohlfeile Nahrung, tragen zu den hiesigen Lustbarkeiten unendlich vieles bei. – Unsere Leute müßen sich ordentlich verstekken, oder wichtige Beschäftigungen vorgeben, wenn sie nicht täglich zu einem Gastmahl[145] wollen gezogen werden. Hier herrscht in Rüksicht der Stände nicht das geringste Vorurtheil. Man lebt untereinander in der zufriedensten Freiheit. Wenn der lange hagere Mann mit seiner Sense nicht so oft und so gräßlich durch die beständig herrschenden Fieber in den Familien Zerrüttungen anstellte, nichts würde den Freiheitssinn unter diesen Leuten trüben. – Bis auf diese Stunde ist, außer der guten Madame Seipp, bei unserer Gesellschaft noch Alles gesund. Hier ist es große Mode Chinarinde statt Tabak zu schnupfen, und wer überdies nicht im Stande ist dreißig bis vierzig Doses China in Zeit zwei Tagen zu verschlingen, der bleibe von Temeswar weg – sonst kömmt er auf den Kirchhof. –

Gieb deinem Karl für mich ein recht warmes Mäulchen, und denke öfters an deine beßte

Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 144-146.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen