Neuer Orpheus

[272] Blätter fallen, bunte welke,

jeder Schmuck zergeht,

Wo der blaue Himmel lachte,

grauer Nebel steht;[272]

Nimmer glüht im Abend reiner

Purpurlohe Brand,

Wärmelose Strahlen fliehen

über ödes Land.


Und auch dieser schöne Sommer

mußte untergehn?

Dieser Reize Pracht und Fülle

muß ich welken sehn?

Diese Sonne, glutenmächtig,

hat der Herbst entthront,

Die am hohen First des Himmels

gnadenreich gewohnt!


Ein erloschnes Feuerauge

schaut sie drein die Welt;

Eine Bühne ists, in welche

falber Morgen fällt.

Wie nach einer prächtigen Tafel

wenn die Gäste fort,

Oder wie die Prunkgemächer

nach dem Königsmord –!


Wüst und widrig diese Erde

schaurig mir und kalt.

Ach, wie schön ist sie gewesen

wonnig von Gestalt!

Dieser Reize Pracht und Fülle

mußte untergehn,

Und auch diesen schönen Sommer

soll ich welken sehn!
[273]

»Wie? du trauerst, weich empfindsam,

daß der Sommer stirbt,

Während dir in dunkler Erde

bessrer Reiz verdirbt?

Willst du klagen, o so klage,

jammere, weil du mußt

Aber greife nach dem Kummer

deiner tiefsten Brust!«


Ha! was rüttelst du der Schmerzen

wüthendsten mir auf,

Der ich sanft poetscher Trauer

ließ den holden Lauf!

Freilich, närrisch ist die Klage

um den Schmuck der Erd,

Der in wenig Monden schöner,

sicher wieberkehrt.


Läppisch nur im Mannesauge

solche Thräne scheint,

Die ich einem blüthevollen

Sommer nachgeweint.

O beschwöre andre Thränen,

andre Klagen nicht!

Die da rythmisch fließen, halten

mich im Gleichgewicht.


Jene Klage laß mich meiden,

die den Schmerz beschreibt,

Der, wenn ich ihn nicht betäube,

selber mich betäubt.[274]

Fort! mich kann der Wahnsinn fassen

jeden Augenblick –

Eine todte theure Gattin

kehrt nicht mehr zurück!

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 272-275.
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