Abendlied

[107] O Musa des Gesanges,

Bemächtige Dich mein,

Du Gegenstand des Dranges,

Du süße Schmerzenspein,

Komm', sitze zu mir nieder

Und mache mit mir Lieder!


Der Tag mit seinen Plagen

Beklemmt mir oft den Sinn,[107]

Der Abend, so zu sagen

Schickt mir die Trösterin.

Die Musa des Gesanges

Erbarmt sich meines Dranges.


Sie kennt die zarten Schwächen

Des menschlichen Gemüths,

Und spornet uns, zu brechen

Die Rosa drum des Lied's:

Damit sich ihren Düften

Des Herzens Kammern lüften.


Sie zeigt mir die Contraste,

Sie lehrt die Harmonie,

Sie macht mich zum Phantaste,

Als wär' ich ein Genie:

Wenn sie nicht wär' zugegen,

Wo wär' ich so verwegen?


Mit meiner Meerschaumpfeife

Bin ich der beste Mann,

Und wenn ich was ergreife,

Fang' ich's zu dichten an,

Doch was ich dicht' und mache,

Das ist auch meine Sache.


Oft muß ich Thränen weinen,

Daß diese Welt so schlecht,

Die Musa, sollt' ich meinen,

Macht Alles wieder recht:

D'rum will ich Lieder reimen

Bis sie den Sarg mir leimen!


Quelle:
Ludwig Eichrodt: Lyrische Karrikaturen, Lahr 1869, S. 107-108.
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