Der Bi-Ba-Bo

[91] Eine alte Dame ist sterbenskrank, und da ihre Angehörigen keinen Platz für sie haben, so wird sie in das Hospital gebracht. Im Hospital ist man besser aufgehoben als zu Hause, sagen die Angehörigen. Man hat seine Wartung und Pflege, man hat seine Reinlichkeit und hat sein gutes Essen, und wenn die Angehörigen einmal krank sind, so werden sie auch ins Hospital gehen.

Man kann verstehen, daß die Angehörigen die alte Dame für sehr arm halten; denn wenn ein Neffe oder eine Nichte sie einmal zufällig besuchten, dann, war da immer nur ein unsagbar schmutziges Bett, ein dreibeiniger Tisch, welcher durch einen Stoß übereinandergelegter juristischer Werke in Folio gestützt wurde, und ein Stuhl mit durchgesessenem Polster. Niemand konnte annehmen, daß die alte Dame vermögend war. Sie war aber vermögend; sie hatte ihr Geld in Banknoten umgewechselt und hob die zwischen den Blättern einer alten Ausgabe des Accursius auf, welcher mit den anderen Foliobänden unter dem Tisch lag. Das war auch der Grund gewesen, weshalb die alte Dame sich zuerst gegen die Überbringung in das Hospital gesträubt hatte. Sie hatte nicht eher eingewilligt, bis ihr Bruder ihr ein Gebetbuch mitgebracht hatte, ein Gebetbuch in Quartformat mit Schließen, denn die Banknoten waren zum Teil recht groß und sie wußte nicht, ob man sie nicht entwertet, wenn man sie knickt.

Die alte Dame lag also im Hospital und las fleißig in ihrem Gebetbuch, aber nur, wenn sie allein war, denn wenn die Wärterin in die Stube trat, so schlug sie das Buch immer gleich zu und verbarg es unter ihrer Decke.

Gradelino war nur eine Episode in der Geschichte des italienischen[92] Theaters, ein kleiner Tropfen im ungeheuren Meer des Geschehens, denn es hat nur einen einzigen Gradelino gegeben, der hatte keinen Vorgänger und keinen Nachfolger, er tauchte auf, er war da, er verschwand.

Gradelino ist auch alt geworden, er sieht zurück auf ein ruhmreiches Leben, er sieht nach vorwärts in das Nichts. Auch Gradelino liegt im Hospital. Wir wissen nicht, wie er dorthin gekommen ist, vielleicht im Unterschied von der alten Dame dadurch, daß er keine Angehörigen hatte, daß er nur eine Episode war in der Geschichte des italienischen Theaters, nur ein kleiner Tropfen im ungeheuren Meer des Geschehens. Die Ärzte behandeln die Kranken nach allgemeinen Grundsätzen. Sie bekommen ihr Gehalt und tun ihre Pflicht, aber sie wissen, daß sie den Kranken nicht viel mehr nützen können, deshalb haben sie sich ihre Aufgabe vereinfacht, indem sie ein für allemal die Kranken in drei Abteilungen geteilt haben: Abteilung eins, die Kranken, welche noch sechs Wochen leben; Abteilung zwei, die Kranken, welche noch vierzehn Tage leben, und Abteilung drei, die Kranken, welche jede Stunde sterben können. Für jede Abteilung haben sie bestimmte Vorschriften gegeben. Abteilung eins erhält Wein zur Stärkung, wird zur Ader gelassen und darf zwei Stunden täglich im großen Saal auf und ab gehen; Abteilung zwei bekommt jeden Morgen einen Teelöffel voll Rizinusöl, und Abteilung drei erhält das Fleisch klein geschnitten, muß das Fieber messen und darf Besuch empfangen. Die Ärzte haben nur nötig, dem Personal anzugeben, zu welcher Abteilung der Kranke gehört, dann sind sie sicher, daß der Patient sachgemäß behandelt wird. Die alte Dame gehört zu Abteilung drei, Gradelino auch. Gradelino liegt in dem Zimmer neben der alten Dame, die Wand ist dünn, und die alte Dame kann alles hören, was bei ihm geschieht.

Gradelino hat den Bi-Ba-Bo bei sich und erregt das Entzücken[93] des gesamten Personals. Die Wärter und die Wärterinnen drücken je nach Geschlecht und Alter ihre Begeisterung aus, die Äußerungen gehen vom Kreischen bis zum Quieken und vom Lachen bis zum Grunzen. Die Ärzte halten es zwar für unpassend zuzuhören, weil das natürlich der Autorität schadet, aber sie hören doch zu. Sie halten mit ihren Beifallsbezeugungen zurück und tragen eine gewisse verächtlich-gelangweilte Miene zur Schau, so daß es aussieht, als ob sie nur anwesend sind, weil sie wissen müssen, was das Personal in seiner freien Zeit tut.

Die alte Dame nebenan hört das Kreischen und Quieken und denkt daran, daß sie auch einmal jung gewesen ist; das ist schon lange her. Sie wird unruhig, schließt das Gebetbuch sorgfältig und steckt es unter die Bettdecke. Ihr verstorbener Gatte ist ein guter Mann gewesen, er war etwas schwächlich von Körper und beklagte sich oft über diese Tränenwelt; einmal wollte er den Wein nicht trinken, sie hatte von dem benachbarten Gastwirt die zusammengegossenen Neigen gekauft; er sagte, den Wein könne er nicht vertragen. Wie sie Beide jung waren und noch nicht verlobt, da waren sie einmal allein im Zimmer zusammengewesen, und da war etwas vorgefallen, daß sie auch gequiekt hatte. Ein seliges Lächeln spielt um den Mund der alten Dame.

Der Bi-Ba-Bo macht sein Testament. Seinen Körper vermacht er der Erde. Seine Seele dem Himmel. Die Pflicht, sein Fieber zu messen, vermacht er den Liebenden. Seine Rollen vermacht er der Nachwelt. Das Recht, Besuche zu empfangen, dem weiblichen Personal. Das weibliche Personal kreischt, und die Ärzte runzeln die Stirn. Nun hat der Bi-Ba-Bo noch sein Barvermögen.

Teresina ist jetzt fünf Jahre alt. Ihre Mutter sagt, man soll nicht denken, daß sie ein unanständiges Kind ist, ihre Mutter ist nämlich mit ihrem Mann nicht verheiratet; sie wischt sich[94] eine Träne aus dem Auge und erklärt, daß das Kind an diesen Verhältnissen unschuldig ist. Teresina ist also jetzt fünf Jahre alt und wohnt den Vorstellungen des Bi-Ba-Bo natürlich immer bei. Sie ist der Liebling des Signor Gradelino, und wenn der Bi-Ba-Bo Eintrittsgeld verlangte, so würde Teresina das bekommen, denn der Bi-Ba-Bo hat keine Bedürfnisse, er ist ja in der Abteilung drei, das Fleisch wird ihm zugeschnitten und überhaupt stirbt er bald.

Also das Barvermögen des Bi-Ba-Bo erbt Teresina. Große Heiterkeit beim männlichen Publikum, das Barvermögen besteht aus einem Pfennig. Man hört Teresinas Stimmchen, welche den Pfennig gleich ausbezahlt wünscht.

Der Leser wird sich hoffentlich nicht gefoppt vorkommen. Er wünscht wenigstens zu wissen, wer eigentlich der Bi-Ba-Bo ist.

Der Leser denke sich einen Zwergkürbis, den der listige Gradelino ausgehöhlt hat, und hat ihm eine komische Nase gemalt, sinnige blaue Augen und einen großen Mund. Gradelino steckt ihn auf den Zeigefinger, nimmt ein Taschentuch und schlingt es malerisch um die Hand, das ist der Anzug; und dann macht er mit den übrigen Fingern die Arme und Beine des Bi-Ba-Bo.

Also Teresina wünscht ihre Erbschaft ausbezahlt. Die alte Dame seufzt und wälzt sich in ihrem Bett. Sie klingelt, es hört niemand, denn alle schreien nebenan, sie klingelt wieder, sie klingelt nochmals; endlich erscheint die Wärterin, blutrot vor unterdrücktem Lachen und prustet los, wie sie im Zimmer ist; sie muß sich auf den Stuhl setzen.

Die alte Dame sagt, sie will den Bi-Ba-Bo auch sehen; sie stirbt bald, das weiß sie, denn von den Ärzten läßt sie sich nichts vormachen, sie kennt die Welt, deshalb will sie den Bi-Ba-Bo auch sehen. Die Wärterin läuft prustend ins Nebenzimmer, eine große Heiterkeit entsteht, dann eine Pause, endlich[95] hört man die Stimme des Arztes, der in nachlässiger Weise die Erlaubnis gibt, da sie ja doch zu Abteilung drei gehört; zwei weißgekleidete Wärter kommen, heben das rechte Bein und schlagen sich vor Vergnügen auf die Hinterbacke, und tragen das Bett mit der alten Dame zum Bi-Ba-Bo nebenan.

Der Bi-Ba-Bo begrüßt sie, sie hebt sich im Bett halb auf und verneigt sich dankend. Der Bi-Ba-Bo erkundigt sich nach ihrem Befinden, sie ist sehr geschmeichelt über die gütige Nachfrage.

Teresina steht vor ihrem Bett, den Finger im Mund, und sieht sie groß an. Das Gebetbuch ist unter der Decke vorgeglitten und fällt auf die Erde; Teresina hebt es auf, reicht es ihr und sagt: »Da!« Die Beschläge des Gebetbuches sind sehr schön gearbeitet und glänzen, weil die alte Dame sie so häufig öffnet und schließt; Teresina schaut immer auf die Stelle hin, wo die alte Dame das Gebetbuch wieder unter die Decke genommen hat.

Der Bi-Ba-Bo erzählt von seinen Liebesverhältnissen und gibt tiefsinnige Aussprüche über die Ehe von sich. Teresina ist noch zu jung, um für solche Dinge ein Verständnis zu haben; sie steht bei der alten Dame, hält den Finger im Mund und sieht auf die Stelle hin, wo das Gebetbuch unter der Decke liegt. Die alte Dame hat ihre Hand auf Teresinas Köpfchen gelegt und lacht über den Bi-Ba-Bo, was sie kann.

Es entsteht eine kleine Pause, der Bi-Ba-Bo muß sich ausruhen. Eine allgemeine Stille herrscht. Plötzlich hört man Teresinas Stimmchen, welche zu der alten Dame sagt: »Weißt du, du könntest mir das schöne Buch schenken, du stirbst ja doch.«

Alle lachen, die alte Dame lacht auch, Teresinas Mutter ist verlegen und ergreift das Kind bei der Hand, um sie vom Bett wegzuführen; Teresina hält sich aber am Bett fest und erklärt, daß sie bei der alten Dame bleiben will. Man weiß[96] ja nicht, was der Grund war, vielleicht wollte sie nur in der Nähe des Buches bleiben; die alte Dame aber greift unter die Decke, nimmt das Buch und reicht es Teresina.

Die alte Dame war recht häßlich, Teresina aber ist ein kluges Kind, sie schlingt ihr die Ärmchen um den Hals und küßt sie. Alle stehen um das Bett herum und bewundern gefühlvoll den Auftritt. Die alte Dame winkt die Mutter herbei, entwindet unter freundlichen Worten dem Kind das Buch, öffnet es, zeigt der Mutter die Kassenscheine, verschließt es wieder und gibt es dem Kind zurück. Dann sagt sie: »Mir wird so leicht«, dehnt sich und stirbt.

Die Angehörigen strengen natürlich einen Prozeß wegen Erbschleicherei an, verlieren ihn aber; Teresinas Mutter heiratet ihren Mann und eröffnet ein Geschäft, Teresina wird vorzüglich erzogen und heiratet später einen Beamten.

Diese Ereignisse hat der Bi-Ba-Bo nicht mehr erlebt, der Signor Gradelino auch nicht. Der Signor Gradelino war ja, wie wir wissen, ebenso wie die alte Dame in Abteilung drei, mußte also auch bald sterben. Nach seinem Tode nahm ein Wärter den Bi-Ba-Bo an sich, es stellte sich aber heraus, daß er bei ihm nicht mehr komisch war; die Leute kamen bei ihm nicht zum Zuhören, wie sie beim Signor Gradelino gekommen waren; man kann sich denken, daß der Wärter darüber ärgerlich wurde, und so warf er denn den Bi-Ba-Bo eines Tages auf den Müllhausen. Dort blieb er einige Zeit liegen, bis neuer Kehricht auf ihn geschüttet wurde, und seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört.

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 91-97.
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