Neuntes Kapitel
Die Auer Kirchweih

[129] Wer, der im hinteren Bregenzerwalde jung war, hätte sich noch nie beim Arbeiten, beim Essen und selbst beim Geldzählen unterbrechen lassen, wenn unvermutet von der Auer Kirchweih die Rede war? Wie ein mächtiger Zauberspruch ruft dieses Wort eine ganze Reihe froher und trüber Bilder wach, die wohl auch den gestandenen Mann und die fleißige Hausmutter noch länger beschäftigen, als sie andere gern glauben ließen. Kaum dürfte je ein Menschenleben hier so arm gewesen sein, daß keine Auer Kirchweih darin liebe, süße Hoffnungen geweckt oder zerstört hätte. Kommt, ihr Väter und Mütter unter der Strecke Himmelsbläue, die man hier sieht, und sagt, ob es nicht eine Kirchweih war, wo ihr euch zuerst als Pärchen öffentlich zeigtet, wo ihr einmal recht seelenvergnügt sein konntet oder euch zum allererstenmal recht grausam ärgern mußtet!

Wer wäre wohl so geld- und freundesarm, daß er selbst heute nichts kaufen, niemanden beschenken und erfreuen könnte? Das alte Bäschen dort strickt nicht nur darum die Wochen vorher so fleißig, um eine Kirchweih zu vergessen, sondern auch um dem Schwesterkind an diesem Tag etwas kaufen und damit eine Freude machen zu können. Die Stände (Buden) der aus ganz Vorarlberg und noch weiterher gekommenen Krämer sind den ganzen Tag derart belagert, als ob da um halbe Preise verkauft würde, obwohl vielmehr das gerade Gegenteil der Fall zu sein pflegt. An diesem Tage wird mancher noch unerfahrene Vogel gerupft; am meisten aber scheint man es auf die ziemlich vollen Beutelchen der Sennen abgesehen zu haben, die dieses Fest gewissermaßen als das ihrige betrachten, weil sie da die Erzeugnisse der Alpenwirtschaft zu verhandeln pflegen. Man erkennt sie schon an den Hüten als Älpler, da auf diesen neben den Rosmarinstengeln der Geliebten auch die seltensten, zu dieser Zeit nur noch auf den höchsten Bergen wachsenden Frühlingsblumen zu[130] stecken pflegen. Die Sennen sind neben den großen Alpenbesitzern die Helden des Tages. Aber diese Ehre ist eben nicht umsonst. Man scheint sie dafür herzunehmen, daß sie, die den ganzen Sommer nie aus der Alp kamen, nun schon seit Monaten kaum einem Menschen einen Kreuzer verdienen und gewinnen ließen. Manchem geht in seinem Eifer, zu geben und zu erfreuen, beinahe der halbe Sommerlohn drauf. So wird denn der schäbige Eigennutz der Wirte und Krämer zum dunkeln Hintergrund, von dem sich die Gutmütigkeit der Festgäste um so schöner abhebt. Es ist die Freude am Umgang mit Menschen und an ihren Werken, die die Bewohner der einsamen Alpen unvorsichtig macht, wo sich's ja doch nur um Kreuzer und Batzen handelt. Die wohlbeleibten Käse- und Butterhändler, die, von Sennen und Alpenbesitzern umgeben, beim Kaufhause stehen, der Schellengießer, bei dem die Älpler für den Tag der Heimfahrt sich einrichten, und auch die Tuch- und Lederhändler wissen davon zu erzählen, daß diese Leute schon noch rechnen können, sobald ihr gutes Herz nicht mehr mit im Spiel ist. Auf dem Platz unter der Kirche, rechts und links, wird den ganzen Tag hindurch gehandelt und gelärmt, daß kein Mensch mehr etwas hört vom Tosen der Ach, die sich hart neben dem Platze zwischen niedergestürzten Trümmern des hochaufragenden Fluhfelsens dem Schnepfauer Walde zuwälzt. Die sagenumwobene Kanisfluh und die stolze Liggsteinpyramide schauen ernst und still auf das bunte Getriebe herunter. Doch was kümmern die tausend Geschäftigen hier die ernsten Berge mit ihren dunkeln Tannen und den wunderbaren Sagen? Nur die buschigen, wunderbar duftenden Bergblumen und Alpenrosen auf den Hüten der Sennen vermögen die Blicke der Mädchen zu fesseln, die immer ungeduldiger auf die Tanzstunde warten. Beinahe unerträglich wird nachmittags nach der Vesper die Lage derjenigen, die den Ihrigen noch nicht gesehen oder doch noch nicht gesprochen haben, obwohl ihnen ihre Brüder und Freundinnen schon vor einer Weile sagten, daß »seine« Geschäfte bereits abgetan seien und »er« nun jeden[131] Augenblick kommen müsse. Ihre Ungeduld hinter einem Lächeln verbergend, stehen die Wartenden dutzendweise auf dem etwas erhöhten Eingang zur Brücke, welche über die Ach führt, und überblicken immer wieder mit einem leisen Seufzer verstohlen den Platz, während sie, scheinbar die Lustigsten, mit jedem Vorübergehenden ein recht lautes Gespräch anzufangen suchen.

Bei diesen stand heut' auch des Krämers Zusel in aller Pracht und Herrlichkeit, noch schöner, frischer, als da sie zum erstenmal als Biggel auftrat Sie hatte beinahe ihre Freude am Ärger ihrer ehemaligen Schulgefährtinnen, den die immer ungeduldiger Wartenden ihrem Scharfblicke vergebens zu verbergen suchten. Warum auch trauten diese Tröpflein einem Mannsbild und banden ihre Hoffnungen, ihr Glück, die ganze Zukunft an seine Launen fest? Früher freilich – noch als unerfahrenes Kind – hätte auch sie lange so hier stehen und, ihre De- und Wehmut hinter einem bittersüßen Lächeln so gut als eben möglich verbergend, auf ihn warten können. Nun aber war das denn doch überwunden ... Statt nur gezwungen zu lächeln, konnte sie lachen über ihren guten Heuer, den sie nicht eine Minute lang aus dem Auge verlor.

Dort drüben stand er bei einigen Bekannten und drehte sich auf den hohen Absätzen der noch gestern abends geflickten Stiefel herum, daß die silberne Uhrkette flog, an welcher sich – wie Neider und Spötter behaupteten – in wohlverwahrter Tasche ein neugewachsener Erdäpfel befinden sollte. Sei dem nun, wie ihm wolle, die silberbeschlagene Tabakspfeife war entschieden nur entlehnt. Der Heuer aber wußte sich damit zu stellen, daß einem ordentlichen Bäuerlein beinahe angst neben ihm werden mußte. Die Blicke aber, die er dann der Zusel drüben vor der Brücke zuschießen ließ, waren denn doch wieder so demütig bittend, daß man es wirklich bewundern mußte, wie diese nur im Kopfumdrehen wieder so streng und stolz und kalt werden konnten. Alles Drängen und Drücken brachte ihn nicht weg von seinem Platze zwischen der bereits heisern Obsthändlerin und dem Laden des Buchbinders,[132] mit dem er zuweilen um den Preis eines silberbeschlagenen Gebetbuches stritt und sich schließlich, als der Buchbinder nachzugeben begann, in seiner Verlegenheit noch derart erhitzte, daß er von dem in den nahen Bergen schon furchtbar tosenden Herbststurme nichts bemerkte, bis das Fluchen des Buchbinders und der übrigen Krämer ihn auf ein Naturereignis aufmerksam machte, welches jetzt gerade recht kam, um seine Geldnot zu verbergen. Die Berge waren schon ganz dunkel, wie glühend rot auch die Abendsonne über den Schnepfauer Wald, der immer näher und näher zu kommen schien, hereinleuchten mochte. Jetzt war alles ganz still, dennoch schien ein gewaltiger Sturmwind alles und alle zu erfassen und zu drehen. Die Krämer begannen so schnell als möglich einzupacken, denn es nahm wohl nur noch der Wind etwas von ihrer Ware mit. Viele Bauern eilten zum Pfarrer und baten ihn, die Unterbringung des noch im Felde aufgehäuften Heues zu gestatten, bevor es vom Winde weiß Gott wohin getragen werde. Diese Dispens war ihnen auch noch selten so schnell und gerne erteilt worden, da der Pfarrer sie an diesem Sonntag viel lieber beim Heu als im Wirtshaus und auf dem Tanzplatze wissen wollte.

Jetzt verschwand die Sonne hinter einer buntfarbigen Wolke, die sich wie mit schwarzen Haken an die Spitzen der Berge zu hängen begann. Draußen im Walde brummte, rauschte und knisterte es immer lauter. An der Fluh krachten mehrere Tannen und surrten hart neben der Brücke in die zischende Ach. Drinnen in Argenau knallten die zugeworfenen Fensterläden, und losgerissene Dachschindeln mitsamt den sie bisher festhaltenden Steinen hagelte es von rechts und links auf die Gasse, daß kein Mensch mehr sicher war. Selbst auf dem Marktplatze begann es nachgerade gefährlich zu werden. Zwar von der Wolke der über die Gasse getriebenen Hüte, ausgespannten Regenschirme, Ablaßbriefe, Hosenträger, Heiligenbilder, Knopftafeln und Taschentücher war nicht viel zu ersorgen; doch wurden schon auch die Bretter, welche die nur für diesen Tag aufgerichteten Buden lose genug bedeckten,[133] von beiden Seiten hereingeworfen, und diesen suchte jedermann, auch unser Heuer, so schnell als möglich zu entrinnen.

Es war für ihn schon die höchste Zeit, und drüben über der Brücke, wo es ziemlich scharf aufwärts geht, mußte er sich beinahe atemlos laufen, um die Zusel, die wie ein Reh davongeeilt war, noch vor dem Gasthaus »Zum Rößle« glücklich einzuholen. Er kam noch gerade recht und schritt nun senkelaufrecht neben dem hübschen, reichen Mädchen ins Haus, die Stiege hinauf und eines Ganges dem Tanzsaale zu. Hier war es schon so voll, daß Zusel ihm kaum noch zu folgen vermochte. Wer daheim weder Kind noch Rind, im Felde kein Heu zu versorgen hatte, mochte nicht mehr ans Weitergehen denken, nachdem hier einmal ein sicheres Unterkommen gefunden war, wo es auch überdies noch so lustig zuging wie hier. Besonders die nun endlich einmal wieder für einen Tag »entalpeten« Sennen langten auf einmal nach allem nun so lange Entbehrten, was die Gesellschaft dem einzelnen zu bieten vermag. Jauchzend, mit dem vollen Glas in der Hand, umtanzten sie ihre Mädchen und machten dabei so tolle Sprünge, daß wohl auch der ärgste Griesgram sich des Lächelns kaum erwehrt hätte und des behaglichen Gefühls, welches in jedem sich regt, der andere sich einem Genusse gänzlich hingeben sieht. Es gab schon solche, die sich zuflüsterten, was die Welt, der Umgang mit Menschen und die Teilnahme an den Früchten gesellschaftlicher Verbindung dem einzelnen sei, ahne man am ehesten, wenn man den beobachte, der das nur einige Monate entbehrt habe! Aber nur wenige beschäftigten sich jetzt mit solchen Gedanken, und unser Heuer und die reiche Krämerszusel sicher am allerwenigsten. Sie hätten auch kaum geglaubt, daß noch jemand die Sennen beachte. Jeder Kopf und jede Lippe, wähnten sie, bewege sich einzig nur ihretwegen, und ihretwegen suchten die hinteren Zuschauer, sich auf die Zehen stellend, über die anderen wegzusehen, und ihretwegen hätte man jetzt aufgehört zu tanzen und aufzuspielen.[134]

Richtig! Sobald der Heuer mit Zusel in den Kreis der Tanzenden trat, begann ein Walzer so lieblich und lustig, wie die guten Musikanten heute wohl noch keinen aufgespielt hatten. Natürlich, einer, mit dem des Krämers hübsches Kind sich öffentlich zeigen mochte, mußte auch nicht auf einer Bettlersuppe daher geschwommen sein, das konnten diese Leute sich denken. Nun aber galt es, sich dieser Auszeichnung auch wert zu zeigen. Hierzu nun gab für ihn, der sich selbst heute gestand, daß er als Gesellschafter nicht besonders viel zu leisten vermöge, der Tanzplatz wohl die beste, ja die einzige Gelegenheit. Daß er der beste Tänzer war, konnte ihm nicht abgestritten werden; er hätte bei den gewagtesten Wendungen ein volles Weinglas auf den Kopf stellen dürfen, ohne etwas für seinen weit hervorstehenden Hemdkragen fürchten zu müssen. Doch das ängstliche Bemühen, es recht schön und künstlich zu machen, kam bald allen lächerlich vor, denen es nicht peinlich war, sich schon beim Zusehen müde werden zu fühlen. Der Heuer jedoch hatte keine Ahnung von einer solchen Wirkung seiner schweißtreibenden Arbeit. »Die werden Augen machen«, dachte er, während er sich zu noch verzweifelteren Sprüngen, einer noch strammeren Haltung zwang. Der Bursche hatte es heute viel strenger als die Woche hindurch beim Heuen. Er war daher auch noch viel schweigsamer als dort und hatte für seine Tänzerin kaum aller fünf Minuten ein schwer zu verstehendes Wort. So hatte diese denn Zeit zum Beobachten, wobei sie sich, wenigstens eine Zeitlang, weit besser unterhielt, als der Heuer sie zu unterhalten vermocht hätte.

Gleich hinter ihr her tanzte der Stighans mit seiner Magd. Das närrische, stolze Gänschen hatte doch immer etwas zu reden und zu lachen, so daß Zusel ordentlich Gewalt brauchen mußte, um sich nicht einmal umzukehren und der Schwätzerin zu sagen, man wisse schon noch, wem sie sei, obwohl sie sich auf dem Stighof schon lange gebärde, als ob sie allein der Hahn im Korbe wäre und jeder Tannenwipfel sich nur ihretwegen bewegte. Noch widerwärtiger wurde ihr[135] das Mädchen, als sie es vom Hansjörg reden und dabei die Hoffnung aussprechen hörte, daß er nun wohl bald heimkommen werde. Jetzt ging ihr ein Licht auf. Der Bursche mußte sich opfern, um den gutmütigen Hans für sein Lebtag zum Schuldner zu machen. Darum wohl nur redete das Mädchen von ihm in einer Gesellschaft, wo Hans leicht auch bedeutendere Mädchen hätte bemerken können, wenn er nicht durch diese dumme Geschichte auf einem Punkte festgehalten worden wäre. Sie hatte dem Vater sehr, sehr unrecht getan mit dem Verdachte, daß er den Hansjörg ihr weggetrieben habe. Der ging wohl selbst, als sie sich nicht geneigt zeigte, sich sofort zu verehelichen und ihm einige Tausende zu verschreiben – um so wenigstens der Schwester den Hans zu fangen. Sein Handel mit ihren Briefen bewies ja, daß der Elende zu so etwas schon der Mann sei. Wunderbar, daß ihr das nicht schon längst einfiel, daß sie den guten Vater in so schlimmem Verdacht haben konnte. Wie um Verzeihung bittend, schaute sie zu ihm hinüber. Er stand neben den Musikanten und sah ihr lächelnd zu. Ja, er konnte lächeln und ihr ihre kindische Freude am Tanzen lassen, wenn sie ihm damit vielleicht einen Plan, eine Hoffnung verdarb! Er sorgte so sehr für ihren Namen und hielt sie von allem immer fern, was ihr auf irgendeine Weise schädlich oder nachteilig hätte werden können. Und nun warf sie sich öffentlich, wenn auch nur für heute, an diesen Springinsfeld weg nur wegen einem flüchtigen Vergnügen. Vergnügen? Du lieber Gott, was war es denn Herrliches, sich von dem eiteln Tropfen einige Stunden herumreißen lassen und allen Gaffern ein Schauspiel sein? Ja, heute war Dorothee wirklich besser dran als sie, das mußte sich Zusel gestehen, und sie gestand sich's auch so laut, daß sogar der gute Heuer etwas davon zu merken begann. Sie hätte gern ihren Ärger an ihm ausgelassen und begann daher den Stighans und sein schönes Anwesen über alle Maßen zu loben. Dann erzählte sie, daß sie den Wackeren jeden Augenblick haben könnte, wenigstens würde die ganze Verwandtschaft die Hände nach ihr ausstrecken; sie[136] aber verachte die groben, selbstsüchtigen Leute, also die Mannsbilder, recht von Herzen und brauche sie nur zuweilen zum Spaß, um sich über die Tröpfe wieder recht lustig machen zu können.

Zusels Reden waren immer bitterer, je lauter, fröhlicher das Reden und Lachen des nachtanzenden Paares wurde. Aber nicht nur ihr taten Hans und Dorothee ganz unbewußt weh, der Jos war durch sie noch in viel üblere Stimmung gekommen. Und doch saß er ganz im Dunkeln an der Wand auf einem Bänkchen unter jungen Burschen, die bedauerten, nicht tanzen zu können, und Greisen, welche von der guten alten Zeit mit Begeisterung erzählten, daß man hätte glauben können, Jos vermöchte sonst nichts mehr zu hören und an nichts anderes zu denken. Gehört wird er auch nicht alles haben, aber er glaubte dem Hans und Dorotheen die Worte von den glühenden Gesichtern lesen zu können. Die beiden waren so glücklich jetzt, und er blieb vergessen bei seinem Tirolerwein in der dunkelsten Ecke sitzen. Kein Wunder, daß er heute nicht mehr der alte opferwillige Jos war, schienen doch auch jene beiden ganz anders geworden zu sein, seit er nicht mehr allein mit ihnen war und für sie arbeiten mußte. Wie dem Bettler das Almosen hatte Hans ihm einen Taler hingeworfen, damit er sich einen Humor trinken könne, und als er dann bat, ihm doch auch einige Tänze mit der Magd zu erlauben, ja, da hatte diese Hansen angesehen, als ob er über Leib und Seele ihr Vormund sei. Freilich, daß das ihn noch gar so ärgern würde, empfand er damals nicht, sonst würde er den Tanzsaal gar nicht betreten haben. Damals wollte er die beiden als Paar sehen, jetzt ärgerten sie ihn ungeheuer, und sein Glas wurde immer schneller leer. Was auch sollte er an der Kirchweih tun als trinken? Heute brauchte ihn niemand. Ganz war er sich selbst überlassen und konnte tun, was er wollte, wenn er nur morgen wieder für alle schwitzte, sorgte und lief. Da die Zusel, die er doch immer nur für ein eitles Ding hielt, hatte mit einem armen Heuer auftreten mögen, Dorothee aber, die fromme, demütige[137] Magd, hatte für ihn nichts mehr als einen Blick des Mitleides. So nämlich nannte er das, was ihr schönes Auge ihm einmal – verstohlen, glaubte er – in seine Ecke geschickt hatte. Ihm war dabei ganz heiß geworden, und trotzig rückte er noch tiefer in den Schatten seines Winkels, sich selbst quälend mit der Vorstellung, daß der Glücklichen sein Anblick nicht recht angenehm sein könnte. Bald war ihm, daß er hätte heim mögen zur Mutter, um sich auszuweinen; dann wieder regte sich alles in ihm, daß er lärmen wollte und Händel anfangen mit der ganzen Welt. Dennoch kam es zu nichts anderem, als daß das Glas neben ihm von neuem wieder gefüllt und geleert wurde.

Des Krämers Heuer hatte, wie eng es jetzt auch sein mochte, soeben einen seiner kunstreichsten Sprünge begonnen, als Zusel ihn, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Kreise der Tanzenden führte und raschen Schrittes mit dem willenlosen Erstaunten den Saal verließ.

Bald hernach suchte Hans den Knecht und sagte, ohne sich um sein unfreundliches Gesicht zu kümmern: »Die Zusel ist fort, und uns wird's jetzt auch zu heiß und zu eng. Komm!«

Ohne eigentlich zu wollen, folgte Jos dem Paar in die Kammer, wo neben dem Krämer und den Seinigen für die eben Eintretenden gerade noch drei Stühle aufgestellt werden konnten.

Dem Jos wurde hier noch heißer als auf dem Tanzplatze. Angst aber war ihm nicht, obwohl er sich von den Angesehensten der Gegend umgeben sah. Er überflog die Gesellschaft mit einem Blicke und sagte dann mit eigentümlichem Lächeln, den Heuer ins Auge fassend: »Heut' laß dir das Gnadenbrot nur schmecken. Vielleicht sitzen wir beide in der Gesellschaft beim letzten Abendmahl, und das schöne, große Osterlamm neben dem Heuer wird wohl ein anderer, möglicherweise sogar noch einer allein bekommen.«

Das hätte man allenfalls für die Eröffnung eines jener witzigen und derben Wortgefechte halten können, wie sie der Bregenzerwälder im Wirtshaus liebt. Aber wem auch der Anfang[138] noch nicht besonders auffiel, den ließ doch das Zittern der Stimme bei diesen Worten und der starre Blick des Sprechenden leicht erraten, daß hier Spaß und bitterer Ernst wenigstens stark gemischt sein mußten. Aller Augen richteten sich auf den Heuer. Man war begierig, wie der eitle Mensch so einen Anfall aufnehmen und wieder zurückgeben werde. Dem wäre aber sicher noch wenig Arges eingefallen, wenn ihm nicht die fragenden Blicke der Anwesenden gesagt hätten, es schicke sich schlecht für so ein Bürschchen, so etwas zu sagen, und für ihn noch schlechter, es geduldig hinzunehmen. »Neben so einen Frosch«, rief er plötzlich, »läßt sich unsereiner nicht stellen, und kommst du mir noch einmal so, daß man nicht weiß, ob's gehauen ist oder gestochen, so soll ich sterben, wenn ich dir nicht zeige, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat.«

»Das hab' ich in dem Hause schon lange vor dir gewußt«, lachte Jos und fuhr dann mit eisiger Kälte fort: »Es ist nicht zu übersehen, größer, stärker und meinetwegen auch hübscher bist du allerdings als ich, aber gerade das könnte noch dein Unglück werden und dich allenfalls, solltest du etwa gar zu hübsch und gewandt sein, noch unter die Soldaten bringen, wenn du nicht schon fast zu alt dazu wärst. Man weiß von Leuten zu erzählen, die das auch schon erlebt haben.«

Das hieß nun wieder einmal zwei oder noch mehrere Fliegen mit einem Schlage getroffen, wie es überhaupt weit herum keiner so gut konnte als der Jos.

Der Heuer zwar verstand von der ganzen Rede nicht viel mehr, als daß er schon fast zu alt sein sollte, aber auch das war recht genug, ihm die feurigste Zornesröte ins Gesicht zu treiben und seine Hände zur Faust zusammenzukrämpfen. Der Krämer, obwohl er den Stich jedes Wortes empfand, zeigte sich bei weitem nicht so schmerzlich getroffen wie der Heuer, doch war auch er zu sehr aus der Fassung gebracht, um sich nicht dennoch als den Getroffenen zu verraten. Die Zusel aber tat sich durchaus keinen Zwang an. »Wär' ich doch[139] ein Bub!« hauchte sie, »wär' ich ein Bub', ich wollt' es versuchen, ob man nicht mehr ungestört und ungeschimpft eine Stunde in guter, anständiger Gesellschaft sein könne, ob man sich von jedem Neidhammel allen zusammengescharrten Unrat nachwerfen lassen müsse.«

Der einzige, welcher vielleicht mit einem Worte wieder Frieden hätte schaffen können, Stighans, fühlte sich von dem Stiche selbst ein wenig getroffen, und wenn das einmal der Fall war, so hatte er seine Gewalt über den Gegner wenigstens für den Augenblick gänzlich verloren. Wie ein Geschlagener saß er neben Dorotheen, der es anzusehen war, wie sehr es sie schmerzte, eine Familienangelegenheit, die sie selbst noch oft beschäftigte, vom Jos nun schonungslos vor die Öffentlichkeit gerissen zu sehen. Ihren Unmut hatte der Knecht auch sofort bemerkt, und er litt furchtbar unter ihrem vorwurfsvollen Blicke. Ruhiger aber wurde er leider nicht, und das Gefühl, sich doch reicht ungeschickt benommen zu haben, brachte ihn nur noch mehr aus der Fassung. Er saß wie auf Kohlen, und wohl hauptsächlich nur, um das ihm so peinliche Schweigen zu unterbrechen, sagte er, an Zusels Ausruf anknüpfend: »Wo der Unrat so leicht zusammenzubringen ist, muß wenigstens vieles nicht recht sauber sein.« »Wer will das noch ertragen und wer es vergelten?« sagte Zusels Blick, der rasch von einem zum anderen schoß. Endlich blieb er an dem Heuer hangen, nicht mehr stolz, sondern demütig bittend, und ihre Stimme zitterte, als sie fragte: »Kannst du denn nichts als schöne Sprünge machen auf dem Tanzsaal? Warum sitzest du denn auch neben mir, wenn der Lästerer da so redet! Entweder schäme dich meiner oder deiner selbst und geh!«

»Hätt' ich ihn doch so in meiner Heimat!« wich der Heuer etwas verlegen aus. »In einem fremden Dorf ist's denn doch nie recht ratsam, sogleich, ohne recht zu wissen warum, mit dem Nächstbesten Händel anzufangen. Bei uns – ich soll sterben, hätt' ich ihn schon lange braun und blau geschlagen!« Den übrigen im Zimmer anwesenden Burschen war es ordentlich[140] eine Genugtuung, daß der Heuer sich des ihm schon lange mißgönnten Platzes neben dem hübschen, reichen Mädchen so unwert zeigte. In manchem regte sich die Lust und fuhr ihm in die Fingerspitzen, der Zusel nun zu zeigen, was er könne und wen man an ihm hätte. Noch ärger wurde das, als das Mädchen rief: »Fremdes Dorf? Ich, die Beleidigte, bin hier nicht fremd.« Der Krämer, der längst auf glühenden Kohlen saß und sich durchaus nicht als getroffen verraten wollte, befahl ihr auf das entschiedenste zu schweigen. Zusel aber fuhr erregt fort: »Ich bin hier nicht fremd, mußt du wissen, und es wird schon noch solche geben, die sich für mich gegen einen Schneider wehren dürfen.«

Nun begannen auch die ernsten Väter zu brummen, das Mädchen sei eigentlich herzhafter als alle, die sich gleichsam mit ihm von so einem Knechtlein foppen ließen. Das feuerte die Burschen, denen schon Zusels Rede durch die Glieder fuhr, nur noch mehr an, und Jos sah, wie aller Blicke sich drohend auf ihn zu richten begannen. Es ward ihm so heiß, daß er aufstehen und sich ins offene Fenster legen wollte, da er weder so gehen mochte noch ein Wort reden konnte. Der Heuer, gewohnt, immer auf Wind und Wetter zu achten, hielt nun ein entschiedenes Vorgehen nicht mehr für besonders gewagt, seit er in aller Augen gelesen zu haben meinte. Anfangs dachte er, das Bürschlein würde ohne sichere Hinterhut gewiß nicht so herzhaft auftreten dürfen. Nun aber sprang er auf den Jos und faßte ihn hinten beim Halstuch, als ob es nicht nur seine Ehre, sondern auch sein Leben gegolten hätte. So wären wir denn leider vor einer Wirtshausrauferei. Freilich ist sie, wenn auch nur Bauernknecht und Heuer die Helden sind, ebensogut Ausdruck verschiedener Ideen und Leidenschaften als eine andere, die mit Beobachtung der feinsten Formen vor sich geht. Da es aber beim besten Willen nicht möglich ist, unsere Kämpfer noch geschwind zu adeln und ihnen Schwert oder Pistole in die Hand zu geben, so wär's wohl am besten, wenn man die Sache so schnell als möglich abtun könnte. Die beiden scheinen auch wirklich bald fertig[141] zu sein. Kaum fühlt Jos von hinten sich gepackt, so dreht er sich gegen den Heuer um, und zwar so schnell und mit solcher Kraft, daß er den langen Heuer beinahe niederreißt und dieser das halb zerrissene Halstuch mitsamt dem Jos erschrocken fahren läßt. Während der Heuer das volle Gleichgewicht wieder zu gewinnen sucht und noch bevor er sich von seinem Schrecken auch nur ein wenig erholt hat, steht Jos zornschnaubend mit geballter Faust vor ihm, und das Bürschchen schaut so wild, so drohend zu dem großen Manne auf, daß dieser von Herzen gern die Zuschauer, die erstaunt und wie angebannt dastanden, um Hilfe angerufen hätte.

Jos schien das zu bemerken, denn er rief: »Nur mit dir hab' ich's jetzt zu tun, und wenn auch ein anderer noch etwas will, so soll er doch warten, bis ich mit dir fertig bin.«

Den Heuer erschreckte das schallende Gelächter, welches dieser Rede folgte. Es war klar, daß man sie beide sich einstweilen überlassen und dem Spaße zusehen wollte. Aug' in Auge standen sie sich etwa eine halbe Minute lang gegenüber, jede Bewegung beobachtend und immer auf Angriff und Abwehr gefaßt. Im Zimmer war es so still, daß man eine Nadel hätte fallen hören. Es war fast unbegreiflich, wie so viele Zuschauer sich ohne Geräusch hereinbringen und Platz finden konnten. Erst als die Wirtin hereinstürzte und nach der Ursache des Streites fragte, wurde es wieder laut. Jeder wollte erzählen und wurde sogleich von dem Nebenansitzenden unterbrochen oder widerlegt. Der Wirtin war's aber auch viel weniger um den Anfang als das Ende des ihr heute doppelt unangenehmen Zwischenfalles zu tun. Ohne lange zuzuhören, begann sie beiden das Kapitel zu lesen und sie mit derben Worten zum Frieden oder zum Heimgehen zu ermahnen.

»Meinetwegen«, lachte Jos bitter, »soll der Tropf ungestört gehen, wenn er nichts kann als zierlich tanzen. Ich bleibe hier und hab' ihm nichts abzubitten.«

Wie ein wildes Tier stürzte der Heuer auf Jos oder eigentlich auf den Platz, wo der gewandte Bursche noch vor einem[142] Augenblicke stand, der ihn jetzt von der Seite anzupacken suchte. Es war wunderbar, wie das Jöslein sich wehren konnte und wie es rechts und links, hinten und vorn zugleich zu sein schien. Die kräftigsten Streiche des Heuers fuhren in die Luft und rissen ihn selbst beinahe zu Boden, so daß er, nach und nach um mehrere Schritte zurückweichend, in der Verzweiflung endlich nach einer leeren Bierflasche langte, die er als Waffe benützen zu wollen schien.

»Jetzt ist's genug«, riefen mehrere Mädchen, die schaudernd seine Absicht errieten.

»Nein, laßt ihn mir!« schrie Jos.

»Wozu noch?«

»Wir sind nicht fertig.«

»Aber es ist genug«, rief man von allen Seiten und begann dem Jos einzureden, er habe sich tapfer gehalten, aber das schönste sei doch noch, wenn er nun auch noch zur rechten Zeit wieder aufzuhören wisse.

»Ja«, rief Zusel schneidend, »ihr stolzen Burschen meiner Heimat, seid doch so gut und schützt den Fremden, der für mich und meine Ehre einstehen wollte. Schützt den Schwachen, wenn ihr sonst gar nichts tut.«

Diese Worte hatten eine wunderbare Wirkung. Der Heuer mit seiner Flasche stand wie vernichtet da; die anderen Burschen aber begannen mit dem Jos in einem ganz anderen Tone zu reden, und der Zusel antworteten sie: »Wir stehen schon auch für dich ein, mußt du wissen, und zwar besser noch als der Beschützer, den du heute mitgebracht hast. Der Heuer soll darum nur ruhig sein, wir wollen das kleine Bürschchen schon wegbringen.«

»Hab' noch keine Lust zu gehen«, trotzte Jos.

»Es wird am Ende wohl zu helfen sein«, riefen mehrere.

»Einem allein geh' ich nicht; wer etwas gegen mich hat, der soll kommen.«

»Gehst auch mir nicht?« rief Hans, so zornig über den eigensinnigen Knecht, wie ihn dieser noch niemals gesehen hatte.[143]

»Hast du denn auch etwas gegen mich?«

»Ja.«

»Und Dorothee redet kein Wort für mich?« fragte Jos wehmütig.

Alles blieb still.

»Oh, wie seid ihr elende Leute!« rief Jos plötzlich. »Alle kniet ihr vor dem Goldenen Kalbe, mag es Zusel heißen oder Hans.«

Die Burschen und Hans mit drangen auf den Aufgeregten ein. Dieser floh gegen das offene Fenster und rief mehrere Male: »Auch Hans kommt; alle, und er – er bringt mich um alles!« Jetzt ein Sprung, und der Verfolgte war, ohne daß eine Hand ihn auch nur zu berühren vermochte, aus dem Zimmer verschwunden.

Hart neben dem niederstürzenden Strahle der durch ein Gewitter angeschwollenen Dachtraufe lag er auf einer Steinplatte und wälzte sich langsam aus dem Kreise der aufspritzenden kalten Tropfen hinaus. Im Zimmer begann man vom Kriminalgericht und sogar vom Köpfen zu brummen. Wer nicht heimschlich, setzte sich auf einen Stuhl und suchte so schnell als möglich von etwas anderem zu reden. Nur Dorothee begehrte auf, wie man sie noch nie gehört, und Hans saß neben ihr, als ob ihn der Blitz getroffen hätte. Es wurde ihm ordentlich wohl, als die Magd ihn gegen Schick und Brauch verließ und vor das Haus hinabeilte, nachdem sie hörte, daß Jos nicht mehr einen Tritt zu gehen imstande sei.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 129-144.
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