Viertes Kapitel

[312] Leo begann vor seinen Kameraden den Überlegenen zu spielen. Er mied ihre Gesellschaft und vernachlässigte seine Akten. Er wartete nur immer auf Emmas Briefe, las wieder und wieder in ihnen und schrieb ihr alle Tage. Er verweilte in Gedanken und in der Erinnerung immerdar voller Sehnsucht bei ihr. Sein heißes Begehren kühlte sich durch das Getrenntsein nicht ab, im Gegenteil, sein Verlangen, sie wiederzusehen, wuchs dermaßen, daß er an einem Sonnabendvormittag seiner Kanzlei entrann.

Als er von der Höhe herab unten im Tale den Kirchturm mit seiner sich im Winde drehenden blechernen Wetterfahne erblickte, durchschauerte ihn ein sonderbares Gefühl von Eitelkeit und Rührung, wie es vielleicht ein Milliardär empfindet, der sein Heimatdorf wieder aufsucht.

Er ging um Emmas Haus. In der Küche war Licht. Er wartete, ob nicht ihr Schatten hinter den Gardinen sichtbar würde. Es erschien nichts.

Als Mutter Franz ihn gewahrte, stieß sie Freudenschreie aus. Sie fand ihn ›größer und schlanker geworden‹, während Artemisia im Gegensatze dazu meinte, er sähe ›stärker und brauner‹ aus.

Wie einst nahm er seine Mahlzeit in der kleinen Gaststube ein, aber allein, ohne den Steuereinnehmer. Binet hatte es nämlich ›satt bekommen‹, immer auf die Post warten zu sollen, und hatte seine Tischzeit ein für allemal auf Punkt fünf Uhr verlegt, was ihn indessen nicht hinderte, darüber zu räsonieren, daß der ›alte Klapperkasten egal zu spät‹ käme.

Endlich faßte Leo Mut und klingelte an der Haustür des Arztes. Frau Bovary war in ihrem Zimmer. Erst nach einer Viertelstunde kam sie herunter. Karl schien sich zu freuen, ihn wiederzusehen; aber weder am Abend noch anderentags wich er von Emmas Seite. Erst nachts kam sie allein mit Leo zusammen,[313] auf dem Wege hinter dem Garten, an der kleinen Treppe zum Bach, wie einst mit dem anderen.

Da ein Gewitterregen niederging, plauderten sie unter einem Regenschirm, bei Donner und Blitz.

Die Trennung war ihnen unerträglich.

»Lieber sterben!« sagte Emma.

Sie entwand sich seinen Armen und weinte.

»Leb wohl! Leb wohl! Wann werd ich dich wiedersehen?«

Sie wandten sich noch einmal um und umarmten sich von neuem. Da versprach ihm Emma, sie wolle demnächst Mittel und Wege finden, damit sie sich wenigstens einmal jede Woche sehen könnten. Emma zweifelte nicht an der Möglichkeit. Sie war überhaupt voller Zuversicht. Lheureux hatte ihr für die nächste Zeit Geld in Aussicht gestellt.

Sie schaffte ein Paar cremefarbige Stores für ihr Zimmer an. Lheureux rühmte ihre Billigkeit. Dann bestellte sie einen Teppich, den der Händler bereitwillig zu besorgen versprach, wobei er versicherte, er werde ›die Welt nicht kosten‹. Lheureux war ihr unentbehrlich geworden. Zwanzigmal am Tage schickte sie nach ihm, und immer ließ er alles stehen und liegen und kam, ohne auch nur zu murren. Man begriff ferner nicht, warum die alte Frau Rollet täglich zum Frühstück und auch außerdem noch häufig kam.

Gegen Anfang des Winters entwickelte Emma plötzlich einen ungemein regen Eifer im Musizieren.

Eines Abends spielte sie dasselbe Stück viermal hintereinander, ohne über eine bestimmte schwierige Stelle glatt hinwegzukommen. Karl, der ihr zuhörte, bemerkte den Fehler nicht und rief: »Bravo! Ausgezeichnet! Fehlerlos! Spiele nur weiter!«

»Nein, nein! Ich stümpere. Meine Finger sind zu steif geworden.«

Am anderen Tag bat er sie, ihm wieder etwas vorzuspielen.

»Meinetwegen! Wenn es dir Spaß macht.«[314]

Karl gab zu, daß sie ein wenig aus der Übung sei. Sie griff daneben, blieb stecken, und plötzlich hörte sie auf zu spielen.

»Ach, es geht nicht, ich müßte wieder Stunden neh men, aber ...« Sie biß sich auf die Lippen und fügte hinzu: »Zwanzig Franken für die Stunde, das ist zu teuer.«

»Allerdings ... ja ...« sagte Karl und lächelte einfältig, »aber es gibt doch auch unbekannte Künstler, die billiger und manchmal besser sind als die Berühmtheiten.«

»Such mir einen!« sagte Emma.

Am anderen Tag, als er heimkam, sah er sie mit pfiffiger Miene an und sagte schließlich:

»Was du dir so manchmal in den Kopf setzt! Ich war heute in Barfeuchères, und da hat mir Frau Liégeard erzählt, daß ihre drei Töchter für zwölf Groschen die Stunde bei einer ganz vortrefflichen Lehrerin Klavierunterricht haben.«

Emma zuckte mit den Achseln und öffnete fortan das Klavier nicht mehr. Aber wenn sie in Karls Gegenwart daran vorbeiging, seufzte sie allemal:

»Ach, mein armes Klavier!«

Wenn Besuch da war, erzählte sie jedermann, daß sie die Musik aufgegeben und höheren Rücksichten geopfert habe. Dann beklagte man sie. Es sei schade. Sie hätte so viel Talent. Man machte ihrem Manne geradezu Vorwürfe, und der Apotheker sagte ihm eines Tages:

»Es ist nicht recht von Ihnen. Man darf die Gaben, die einem die Natur verliehen, nicht brach liegen lassen. Außerdem sparen Sie, wenn Sie Ihre Frau jetzt Stunden nehmen lassen, später bei der musikalischen Erziehung Ihrer Tochter. Ich finde, die Mütter sollten ihre Kinder immer selbst unterrichten. Das hat schon Rousseau gesagt, so neu uns diese Forderung auch anmutet. Aber das wird dermaleinst doch Sitte, genau wie die Ernährung der Säuglinge durch die eigenen Mütter und wie die Schutzpockenimpfung. Davon bin ich überzeugt!«

Infolgedessen kam Karl noch einmal gesprächsweise auf diese[315] Angelegenheit zurück. Emma erwiderte ärgerlich, daß es besser wäre, das Instrument zu verkaufen. Dagegen verwahrte sich Bovary. Das kam ihm wie die Preisgabe eines Stückes von sich selbst vor. Das brave Klavier hatte ihm so oft Vergnügen bereitet und ihn einst so stolz und eitel gemacht!

»Wie wäre es denn,« schlug er vor, »wenn du hin und wieder eine Stunde nähmst? Das wird uns wohl nicht gleich ruinieren!«

»Unterricht hat nur Zweck, wenn er regelmäßig erfolgt«, entgegnete sie.

Und so kam es schließlich dahin, daß sie von ihrem Gatten die Erlaubnis erhielt, jede Woche einmal in die Stadt zu fahren, um den Geliebten zu besuchen. Schon nach vier Wochen fand man, sie habe bedeutende Fortschritte gemacht.

Quelle:
Flaubert, Gustave: Frau Bovary. Leipzig 1952, S. 312-316.
Lizenz:
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