Der Tower-Brand

[161] Wenn's im Tower Nacht geworden, wenn die Höfe leer und stumm,

Gehn die Geister der Erschlagnen in den Korridoren um,

Durch die Lüfte bebt Geflüster klagend dann, wie Herbsteswehn,

Mancher hat im Mondenschimmer schon die Schatten schreiten sehn.


Vor dem Zug, im Purpurmantel, silberweiß von Bart umwallt,

Schwebt des sechsten Heinrichs greise, gramverwitterte Gestalt,

Lady Gray dann, mit den Söhnen König Edwards an der Hand –

Leise rauscht der Anna Bulen langes seidenes Gewand.


Zahllos ist das Heer der Geister, das hinauf, hinunter schwebt,

Das da murmelt: »Fluch dir, Tower, dran das Blut der Unschuld klebt;

Schutt und Trümmer sollst du werden!« Aber machtlos ist ihr Fluch,

Ehern hält den Bau zusammen böser Mächte Zauberspruch.


Wieder nachtet's, wieder ziehn sie durch die Räume still und weit,

Plötzlich stockt der Zug und schart sich um ein glimmend Tannenscheit,

Dann geschäftig tragen Schnitzwerk, Fahnen, Fransen sie herzu,

Und zur hellen Flamme schüren sie die matte Glut im Nu.


Wie das prasselt, wie das flackert! Einen sprüh'nden Feuerbrand

Nehmen sie zum nächt'gen Umzug jetzt als Fackel in die Hand,

Weithin wird die Saat der Funken in den Zimmern ausgestreut,

Flammen sollen draus erwachsen; hei, der Fluch erfüllt sich heut!


Alles schläft; doch auf vom Lager springt im Nu der rasche Sturm,

Und er wirft sich in das Feuer, und das Feuer in den Turm,[161]

An des Towers Felsenwände peitscht er schon das Flammenmeer,

Und den Segen drüber sprechend, wogt auf ihm das Geisterheer.


Doch, als ob das Salz der Tränen feuerfest die Wände macht,

Wie wenn Blut der beste Mörtel, den ein Meister je erdacht –

Seht, wie durstig auch die Flamme sich von Turm zu Turme wirft,

Hat sie doch, als wären's Becher, nur den Inhalt ausgeschlürft.


Wieder, wenn es Nacht geworden, wenn's im Tower leer und stumm,

Gehn die Geister der Erschlagnen in den Korridoren um,

Durch die Lüfte weht Geflüster, klagend dann wie Herbsteswehn,

Mancher wird im Mondenschimmer noch die Schatten schreiten sehn.


Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 20, München 1959–1975, S. 161-162.
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