Gute Nacht

[128] Schon fängt es an zu dämmern,

Der Mond als Hirt erwacht

Und singt den Wolkenlämmern

Ein Lied zur guten Nacht;

Und wie er singt so leise,

Da dringt vom Sternenkreise

Der Schall ins Ohr mir sacht:

Schlafet in Ruh'! schlafet in Ruh'!

Vorüber der Tag und sein Schall;

Die Liebe Gottes deckt euch zu

Allüberall.


Nun suchen in den Zweigen

Ihr Nest die Vögelein,

Die Halm' und Blumen neigen

Das Haupt im Mondenschein,

Und selbst des Mühlbachs Wellen

Lassen das wilde Schwellen

Und schlummern murmelnd ein.

Schlafet in Ruh', schlafet in Ruh'!

Vorüber der Tag und sein Schall;

Die Liebe Gottes deckt euch zu

Allüberall.


Von Tür zu Türe wallet

Der Traum, ein lieber Gast,

Das Harfenspiel verhallet

Im schimmernden Palast,

Im Nachen schläft der Ferge,

Die Hirten auf dem Berge

Halten ums Feuer Rast.

Schlafet in Ruh', schlafet in Ruh'!

Vorüber der Tag und sein Schall;

Die Liebes Gottes deckt euch zu

Allüberall.


Und wie nun alle Kerzen

Verlöschen durch die Nacht,[129]

Da schweigen auch die Schmerzen,

Die Sonn' und Tag gebracht;

Lind säuseln die Zypressen,

Ein seliges Vergessen

Durchweht die Lüfte sacht.

Schlafet in Ruh', schlafet in Ruh'!

Vorüber der Tag und sein Schall;

Die Liebe Gottes deckt euch zu

Allüberall.


Und wo von heißen Tränen

Ein schmachtend Auge blüht,

Und wo in bangem Sehnen

Ein liebend Herz verglüht,

Der Traum kommt leis und linde

Und singt dem kranken Kinde

Ein tröstend Hoffnungslied.

Schlafet in Ruh', schlafet in Ruh'!

Vorüber der Tag und sein Schall;

Die Liebe Gottes deckt euch zu

Allüberall.


Gut' Nacht denn, all ihr Müden,

Ihr Lieben nah und fern!

Nun ruh' auch ich in Frieden,

Bis glänzt der Morgenstern.

Die Nachtigall alleine

Singt noch im Mondenscheine

Und lobet Gott den Herrn.

Schlafet in Ruh', schlafet in Ruh'!

Vorüber der Tag und sein Schall;

Die Liebe Gottes deckt euch zu

Allüberall.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 128-130.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon