Deutsches Leben

[233] 1867.


Was steht ihr düster und betroffen,

Die ihr ein deutsch Panier doch tragt,

Nun endlich, endlich unsrem Hoffen

Ein Morgen der Erfüllung tagt?

O bannt von eurer Stirn die Wolke!

Verscheucht den wüsten Traum der Nacht,

Als wär' es aus mit unsrem Volke,

Weil's anders kam, als ihr gedacht.


Denn als der Sturm der sieben Wochen

Die Welt erschüttert nah und fern,

Wohl hat er morsche Zier gebrochen,

Doch nimmer unsres Wesens Kern.

Aus tausend Quellen um die Wette

Braust unversiegt von Ort zu Ort,

Braust stolzer nur im neuen Bette

Der Strom des deutschen Lebens fort.


Noch wettert durch der Schlacht Gedröhne

Das Schwert, ein Blitz in deutscher Hand,

Noch wissen lächelnd unsre Söhne

Zu sterben für das Vaterland.

Und die in schwindelnden Gedanken

Die Herrn der Welt sich schon geglaubt,

Mit bangem Neide sehn die Franken

Den Kranz des Siegs auf unsrem Haupt.


Noch waltet am ererbten Herde

Der deutsche Bauer schlicht und stark,

Beharrlich, wie die Kraft der Erde,

Die treu ihn nährt mit ihrem Mark.[233]

Noch wächst auf hohem Schloß, dem Ruhme

Nacheifernd, den der Ahn gewann,

Manch kühner Sproß zum Rittertume

Des Geistes und des Schwerts heran.


Noch blüht gesegnet in der Runde

Der Städte Wandel, Kunst und Fleiß;

Noch wurzelt dort im festen Grunde

Des Bürgersinns der Freiheit Reis.

Im Wettkampf jeder Kraft erschaffen,

Gedeiht das Neue Tag für Tag,

Doch bürgt die ernste Pflicht der Waffen,

Daß alte Zucht nicht rosten mag.


Noch läßt zu nimmermüdem Streben

Die Forschung ihre Fackel wehn,

Der Vorzeit reichen Schatz zu heben,

Der Schöpfung Rätsel zu verstehn;

Und wenn bekränzt und vielbewundert

Die goldne Zeit der Dichtung schied,

Noch rauscht dem eisernen Jahrhundert

Begeistrung manch geflügelt Lied.


Noch steht in unsres Lebens Mitte

Wie eine feste Burg das Haus

Und strömt den Segen edler Sitte

Vom Herd auf die Geschlechter aus;

Noch birgt sich in der Jungfrau Sinne

Der Unschuld und der Ehren Hort,

Noch scheucht der Cherub reiner Minne

Vom Jüngling den Versucher fort.


Noch wacht mit brünstigen Gebeten

Die Mutter über ihrem Kind,

Noch treibt's den Mann, vor Gott zu treten,

Wenn er ein ernstes Werk beginnt;

Und bricht durch starrer Satzung Schranke

Der ungedämpfte Geist sich Bahn,

Nur treuer wipfelt sein Gedanke

In freier Andacht himmelan.[234]


Drum laßt vom Zagen, laßt vom Grollen!

Im Sturme wuchs uns nur die Kraft,

Und mächtig in Gezweig und Schollen

Den Lenz verkündend treibt der Saft.

Erstorbnem weint ihr nach vergebens,

So kommt und tut den Brüdern gleich,

Und auf dem Grund des alten Lebens

Helft uns erbaun das neue Reich!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 233-235.
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