Die Reise

[57] Einst machte durch sein ganzes Land

Ein König den Befehl bekannt,

Daß jeder, der ein Amt erhalten wollte,

Gewisse Zeit auf Reisen gehen sollte,

Um sich in Künsten umzusehn.

Er ließ genaue Karten stechen

Und gab dazu noch jedem das Versprechen,

Ihm, würd' er nur, so weit er könnte, gehn,

Mit dem Vermögen seiner Schätze

Alsdann auf Reisen beizustehn.

Es war das deutlichste Gesetze,

Das jemals noch die Welt gesehn;

Doch weil die meisten sich vor dieser Reise scheuten,

So sah man viele Dunkelheit.

Die Liebe zu sich selbst und zur Bequemlichkeit

Half das Gesetz sehr sinnreich deuten;

Und jeder gab ihm den Verstand,

Den er bequem für seine Neigung fand;

Doch alle waren eins, daß man gehorchen müßte.


Man machte sich die Karten bald bekannt,

Damit man doch der Länder Gegend wüßte.

Sehr viele reisten nur im Geist

Und überred'ten sich, als hätten sie gereist.

Noch andre schafften das Geräte

Zu ihrer Reise fleißig an[57]

Und glaubten, wenn man nur stets reisefertig täte,

So hätte man die Reise schon getan.

Sehr viele fingen an zu eilen,

Als wollten sie die ganze Welt durchgehn;

Sie reisten, aber wenig Meilen,

Und meinten, dem Befehl sei nun genug geschehn

Noch andre suchten auf den Reisen

Noch mehr Gehorsam zu beweisen

Als den, den das Gesetz befahl;

Sie reisten nicht durch grüne Felder,

O nein! sie suchten finstre Wälder

Und reisten unter Furcht und Qual,

Behängten sich mit schweren Bürden

Und glaubten, wenn sie ausgezehrt

Und siech und krank zurücke kommen würden,

So wären sie des besten Amtes wert;

Sie reisten nie auf Kosten des Regenten;

Doch jene, die zur Zeit noch keinen Schritt gethan,

Die hielten Tag für Tag um Reisekosten an,

Damit sie weiter kommen könnten.


Wie elend, hör' ich manchen klagen,

Ist nicht dies Märchen ausgedacht!

Schämt sich der Dichter nicht, uns Dinge vorzusagen,

Die man kaum Kindern glaublich macht?

Wo giebt es wohl so stumpfe Köpfe,

Als uns der Dichter vorgestellt?

Dies sind unsinnige Geschöpfe

Und nicht Bewohner unsrer Welt.

O Freund! was zankst du mit dem Dichter?

Sieh doch die meisten Christen an;

Betrachte sie und dann sei Richter,

Ob dieses Bild unglaublich heißen kann?

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 57-58.
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