Die Biene und die Henne

[71] »Nun Biene«, sprach die träge Henne,

»Dies muß ich in der Tat gestehn:

So lange Zeit, als ich dich kenne,

So seh' ich dich auch müßig gehn.

Du sinnst auf nichts als dein Vergnügen;

Im Garten auf die Blumen fliegen

Und ihren Blüten Saft entziehn,

Mag eben nicht so sehr bemühn.

Bleib immer auf der Nelke sitzen,

Dann fliege zu dem Rosenstrauch.

Wär' ich wie du, ich tät' es auch.[71]

Was brauchst du andern viel zu nützen?

Genug, daß wir so manchen Morgen

Mit Eiern unser Haus versorgen.«


»O!« rief die Biene, »spotte nicht!

Du denkst, weil ich bei meiner Pflicht

Nicht so, wie du bei einem Eie,

Aus vollem Halse zehnmal schreie:

So, denkst du, wär' ich ohne Fleiß.

Der Bienenstock sei mein Beweis,

Wer Kunst und Arbeit besser kenne,

Ich oder eine träge Henne?

Denn, wenn wir auf den Blumen liegen,

So sind wir nicht auf uns bedacht;

Wir sammeln Saft, der Honig macht,

Um fremde Zungen zu vergnügen.

Macht unser Fleiß kein groß Geräusch,

Und schreien wir bei warmen Tagen,

Wenn wir den Saft in Zellen tragen,

Uns nicht, wie du im Neste, heisch:

So präge dir es itzund ein:

Wir hassen allen stolzen Schein;

Und wer uns kennen will, der muß in Rost und Kuchen

Fleiß, Kunst und Ordnung untersuchen.


Auch hat uns die Natur beschenkt

Und einen Stachel eingesenkt,

Mit dem wir die bestrafen sollen,

Die, was sie selber nicht verstehn,

Doch meistern und verachten wollen:

Drum, Henne! rat' ich dir, zu gehn.«


O Spötter, der mit stolzer Miene,

In sich verliebt, die Dichtkunst schilt,

Dich unterrichtet dieses Bild.

Die Dichtkunst ist die stille Biene;

Und willst du selbst die Henne sein,

So trifft die Fabel völlig ein.

Du fragst, was nützt die Poesie?[72]


Sie lehrt und unterrichtet nie.

Allein wie kannst du doch so fragen?

Du siehst an dir, wozu sie nützt:

Dem, der nicht viel Verstand besitzt,

Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 71-73.
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